„Der gestohlene Gott“ von Hans Henny Jahnn an der
Volksbühne Berlin, Regie Thomas Bischoff
In Büschen gesessen...
Jähe Wende der Berliner Volksbühne? Sechs weihevolle Feuer lodern über den Portalen und künden von neuen Intentionen. Adieu ästhetisches Widerstandsnest? Ahoi konformes Theater? Zum Auftakt der Spielzeit präsentiert Thomas Bischoff, der neue Hausregisseur, Hans Henny Jahnns verquaste Tragödie »Der gestohlene Gott«. Man kommt ins Grübeln.
Das neue Motto des Theaters, Jahnn entlehnt, macht immerhin neugierig:
»Wir sprechen unaufhaltsam von der Zukunft. Und überwinden die Gegenwart
nicht«. Das Rezept, ebenfalls von Jahnn übernommen, scheint passabel. Eine
»Religionsgemeinschaft« möcht' die Volksbühne sein zwecks Erweckung von
Gewissenhaftigkeit gegenüber »Lebensführung, Lebensgestaltung und
Lebensarbeit«. Das Beispiel jedoch, mit dem die Kunden umworben werden, stimmt
skeptisch.
Gegenwart überwinden, indem man Vergangenheit beschwört? Und zwar eine Zeit,
in der die Gesellschaft menschliche Sexualität und frauliche Emanzipation bestenfalls
prüde auf die Lippen nahm? »Die Schenkel beherbergen das Unaussprechliche«,
heißt es da. Oder: »Frauen haben die Bestimmung zu brennen.« Das Stück des
30-jährigen Jahnn aus dem Jahre 1924, ob nun spätpubertär oder frühvergreist,
quält sich verkrampft mit Homosexualität und Inzest. Nun mag man aktuell auf
die USA verweisen, auf den Umgang dortiger Justiz mit einem elfjährigen
Schweizer Jungen, dem Inzest mit der kleinen Schwester vorgeworfen wird. Aber
Auswüchsen moderner Borniertheit kann man schwer mit Argumenten begegnen, die
schon unbrauchbar waren, als sie entstanden. Nicht zufällig ist das Stück erst
1993 als Diplom-Inszenierung uraufgeführt worden.
Das ästhetisch Verdrießliche bei diesem frühen Jahnn ist die
Gemenge-Lage zwischen verworrenen Geschlechter-Beziehungen und schwülstigen
Verlautbarungen der Gestalten über wahre Liebe, reines Blut und schönen Tod.
Die junge Wendelin Hygin (Cordelia Wege) liebt ihren Bruder Leonhard
(Hans-Werner Leupelt) und dessen Halbbruder Leander Sebald (Milan Peschel),
aber auch Leonhard und Leander lieben sich geradezu absolut. An diesen
kompliziert ungewöhnlichen verwandtschaftlichen Beziehungen zerren Vater
Sebald (Lutz Blochberger), Mutter Sebald (Astrid Meyerfeldt) und Vater Hygin
(Winfried Wagner) herum.
Dunkle Linien der noch dunkleren Handlung. Vater Hygin
hat wacker »in Büschen gesessen«, um dahinter zu kommen, mit wem es seine
Tochter treibt, die - Gelächter im Zuschauerraum - partout Vater Sebald gezeugt
haben will. Weshalb Leonhard seiner Mutter Gift zusteckt. Die Verdikte der
Alten sind muffig, die Ansprüche ihrer Kinder in auswegloser Lage gipfeln in
Todessehnsucht. Dazwischen gemengt ist eine kultische Abgötterei der Mädchen Hedwig,
Katharina und Magda, die den Meinungsführer Leonhard lieben. Am Ende schläft
Leonhard mit seiner Schwester, dann läßt sie sich mit Leander begraben. Gemeinsam
sterben und den Anstifter und Wortführer im Leben zurücklassen - göttlich.
Solch verklemmte Lebenssicht stellt die Regie nun nicht etwa in Frage
und verfremdet den faulen Zauber, im Gegenteil, sie bekennt sich dazu. Und zwar
mit einem theatralen Aplomb, der ermüdete Zuschauer in den kurzen Pausen mit
dröhnender Orgel ins pompöse Geschehen zurückholt (Jahnn war Orgelbauer).
Ansonsten wird des Dichters bildreich komponierte Sprache nachhaltig zum Klingen
gebracht. Allerhand stereotyp gefühlsmulmiges Getön (wandlungsfähig Astrid
Meyerfeldt mit elementar kraftvoller Stimme wie mit leisen Tönen). In einer großen,
dämmrigen Helden-Halle (Bühnenbild Uta Kala) arrangiert Bischoff ein geheimnisumwittertes
Ritual abstrakter Gestalten. Nach weiten, leeren Gängen erstarren sie zu
Statuen und verkünden ihre Botschaften. Unfreiwillig komisch immer wieder, wenn
Salzsäulen so inbrünstig wie lautstark von verzehrend leidenschaftlicher Liebe
sprechen.
Theatralischer Konservatismus, den ein Herbert Jhering
schon in den 20er Jahren kritisch attackierte, feiert fatale Urständ.
Möglicherweise wären die vorzuführenden sexuellen Irrungen und Drangsale
glaubwürdiger geraten, hätte die Regie wirklich pubertierende Jugendliche gezeigt
statt reif wirkende Männer. Doch wie auch immer: Ich fürchte, die Rückkehr zu einem
verkorkst bürgerlichen Lebensentwurf, der schon abstrus war, als er vor rund
70 Jahren vorgestellt wurde, sowie dessen gemäße theatrale Wiederbelebung können
produktive Impulse ins Heute schwerlich auslösen.
Neues Deutschland, 25. Oktober 2004