„Haifische und andere Menschen“ von
Hanne Hiob an den Kammerspielen des DT Berlin
Haifische sind keine Menschen
Hanne Hiob, eine unerschütterliche
Ruferin. Die Tochter Brechts, tapfere und leidenschaftliche Antifaschistin,
prangert mit ihrem Agit-Programm „Haifische und andere Menschen" (mit dem
sie nach Auftritten in München, Nürnberg, Stuttgart, Frankfurt/Main, Bonn, Saarbrücken,
Bremen, Hannover und Essen jetzt in den Kammerspielen des Berliner Deutschen
Theaters gastierte) gnadenlos an, wie sehr, wie gefährlich der bundesdeutsche
Staat von faschistoider Ideologie durchsetzt ist. Das Material ist erdrückend.
Man möchte schreien. Man empfindet entsetzliche Ohnmacht. Und man ist froh, daß
es noch deutsche Künstlerinnen wie Hanne Hiob gibt, die die Dinge mutig beim
Namen nennen.
Die Haifische, die ihr Vater besungen
hat, und von denen jeder gebildete Deutsche, zumindest in den neuen Bundesländern,
weiß, wen sie meinen, die Haifische, so beweist die Hiob, sind dreister, sind
gefräßiger denn je. Sie verspeisen Millionen und quittieren mit einer Mark. Und
natürlich haben sie Gefolgsleute. Besitzhungrige wie Marika Rökk beispielsweise,
die Ufa-Show-Tänzerin des Tausendjährigen Reiches, die ihre Villa in Babelsberg
wiederhaben will, welche rechtens dem von den Nazis aus Deutschland
vertriebenen jüdischen Filmregisseur Alfred Zeisler gehört. Oder wie Klaus von
Dohnanyi, den früheren Bürgermeister von Hamburg, der das Haus seiner Eltern in
Potsdam-Sacrow wiederhaben möchte, das bis 1941 Eigentum des jüdischen
Kaufmanns Arthur Landsberg war.
Hanne Hiob und ihre Mitarbeiter haben gründlich
recherchiert. Nicht nur über Immobilien-Haie. Auch: Über die befremdliche
Praxis bundesdeutscher Justiz, die Nazi-Gegner offenkundig besonders gern und
schnell einsperrt. Über die „Entmarxung" bei Straßenumbenennungen durch
die neuen ostdeutschen Machthaber, die Namen wie Heinrich Heine oder Paul
Robeson tilgten. Über den „freiheitlich-rechtsstaatlichen" Umgang mit ehemaligen
Mitarbeitern der Staatssicherheit, verquickt mit der Frage, ob denn überhaupt
sein kann, daß der liquidierte Ost-Geheimdienst soviel besser war als der existierende
West-Geheimdienst. Über den behördlichen Umgang mit Ausländern in der Bundesrepublik,
exemplifiziert am Fall Baidy Baila, eines farbigen Franzosen, dem auf einem
Münchner Amt „vorsorglich" Handschellen angelegt wurden, als er seine Aufenthaltsgenehmigung
verlängern lassen wollte. Über die Bücherverbrennung der Nazis und die analoge
Praxis der potentiellen Neo-Nazis in der ehemaligen DDR, die Zehntausende von
Büchern auf Müllkippen transportierten oder - wie in Gera geschehen -
verbrannten. Über die an faschistische Praktiken erinnernde willkürliche
Vertreibung von Wissenschaftlern und Ärzten aus ihren Wirkungsstätten, wie die
des Professor Dr. Kurt Franke aus dem Krankenhaus Berlin-Pankow. Über die Verfahrensweise bundesdeutscher
Justiz, Deutsche nicht als Deutsche anzuerkennen,
wenn deren Eltern, weil sie Juden waren, Nazi-Deutschland verlassen hatten. Ein Mosaik der Ungeheuerlichkeiten,
beredte Fakten.
Sage bitte niemand, diese Bundesrepublik
Deutschland behause eine rechtsstaatliche Gesellschaft. Es ist ein Land, in dem das Recht nach den Interessen der Haie manipuliert wird. Es ist ein
Land, in dem sich der Hai-Fisch-Bazillus,
kaum angefochten, und von den Behörden geduldet, ausbreitet. Hanne Hiob und ihre Truppe belegen es. Nicht durchweg
artifiziell perfekt zwar. Aber das war schon vor 1933 nicht die erste Frage. Etwa als Brecht mit seiner „Mutter"-Inszenierung in Berliner Gaststätten-Sälen
auftrat. Es ist auch heute nicht die erste Frage. In Zeiten, in denen die herrschenden Medien faschistoide Meinungen und Haltungen gesellschaftsfähig machen, ist jede
antifaschistische Stimme kostbar.
Die kleine, schmächtige Hanne Hiob
sitzt zumeist am Tisch, zitiert und rezitiert sachlich, mit schlichtem Ernst,
oft mit einem ironischsanften, ja weisen Lächeln, in dem sich Wissen und
Erfahrung im Umgang mit bundesdeutscher Wirklichkeit spiegeln. An ihrer Seite
hat sie demonstrativ gern den farbigen Tshamano Sebe aus Südafrika, einen
vitalen, elementaren Sänger. Zum engagierten Ensemble gehören des weiteren: die
Schauspielerin und Sängerin Erika Fischer aus München, der Kabarettist Helmut Krauss
aus Berlin, der ehemalige Offizier der DDR-Grenztruppen Frank Randa, der Sänger
und Gaukler Dieter Beckert aus Dresden und der Keyboarder und Komponist Peter
Till aus Mainz. Sie bieten die Zeit-Dokumente und sie kommentieren und opponieren
mit Texten und Liedern u. a. von Beckerts Banquet, Klaus Croissant, Hanne Hiob,
Richard Hey, Hanns Kronawitter, Stefan Schindelbeck und Bertolt Brecht.
Das ist eine der bestürzenden Erkenntnisse
des Abends. Brecht scheint alles schon gewußt zu haben. Der große deutsche
Dichter ist mit seinen Arbeiten, mit „Wenn die Haifische Menschen wären",
„Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt", „Kälbermarsch", „Besuch
bei den verbannten Dichtern", „Lied von der Tünche" oder „Lied von
der belebenden Wirkung des Geldes", schockierend aktuell. Man versteht
einmal mehr: Es war kein Zufall, als seine Grabstätte nach der deutschen Wende
mit der Inschrift „Raus Sau Jude" beschmiert wurde. Mit welch Foto-Dokument
vom Grabe ihres Vaters die Hiob ihren Abend beschloß. Applaus. Tiefe Nachdenklichkeit.
Wie sagte doch Brecht in „Der Nachgeborene": Ich gestehe es: Ich / Habe keine Hoffnung. / Die blinden Reden von
einem Ausweg. Ich / sehe. / Wenn die Irrtümer verbraucht sind / Sitzt als
letzter Gesellschafter / Uns das Nichts gegenüber.
Neues Deutschland, 9. Februar 1993