„Marie
Hedder“ von Gerhard Fabian, Uraufführung am Theater
Greifswald,
Regie
Horst Reinecke
Dramatisches Neuland
Man
könnte einen Streit vom Zaune brechen über
die Frage, ob es denn typisch, sei, daß die
Mutter zweier unehelicher Kinder nicht in eine LPG aufgenommen wird, weil sie
im Dorf als Hure verschrien ist. Gewiß ist dies
sozusagen ein Fall am Rande, nicht geeignet,
die historischen Veränderungen auf dem Dorf in ihrer ganzen Breite zu
spiegeln; aber er ist aus dem Leben
gegriffen, und im Moment über seine
Abseitigkeit zu diskutieren, hieße unserer Gegenwartsdramatik einen
Bärendienst erweisen. Wir müssen fragen: Ist es dem Autor Gerhard Fabian gelungen, diesem Vorfall auf der Bühne dramatisches
Leben einzuhauchen und ihn in solche
gesellschaftlichen Zusammenhänge zu stellen, daß
die Tendenz der Entwicklung auf dem Lande sichtbar wird?
Die Geschichte spielt 1954 in einem Dorf der Deutschen
Demokratischen Republik. Marie Hedders Mutter ist gestorben. Marie bleibt zurück
mit zwei Kindern. Allein kann sie den Hof nicht bewirtschaften. Sie will in die
LPG eintreten. Aber die Genossenschaftsbauern
wollen sie nicht aufnehmen, da sie eine Hure sei und der Ruf der LPG
nicht geschädigt werden dürfe. Der Autor läßt keinen Zweifel darüber, daß
der Vorwurf der Bauern ungerechtfertigt ist. Doch Werner Mertens, Maries ehemaliger Verlobter, der
sie mit den Kindern vorfand, als er nach Gefangenschaft und Aufenthalt in Westdeutschland ins Dorf zurückkehrte, glaubte
den Gerüchten und trennte sich von ihr. Fritz Ligowski,
Vater des einen Kindes, ansonsten verheiratet, hat Marie Hedder
erpreßt, indem er ihr Maschinen und Saatgut lieh. Er
ist ihr ärgster Gegner in der Genossenschaft, denn er will sein Handeln vertuschen und Marie in die
Stadt abschieben. Krischan, ein alter Bauer, versucht vergebens, die Genossenschafter
zur Aufnahme der Marie Hedder zu bewegen. Auch alle
seine Appelle an Mertens, ihr zu helfen, sind vergebens. Endlich kommt Mertens dahinter, daß Ligowski der Marie
zwar nachstellt, aber abgewiesen wird. Das macht ihn stutzig und schließlich beginnt er einzugehen, daß er ihr gegenüber unrecht gehandelt hat. In einer
klärenden Aussprache kommen sich beide wieder näher. Nun verteidigt Mertens
seine Marie und drängt auf einer Versammlung Ligowski
in die Enge, so daß dieser Farbe bekennt,
Die
dramatische Gestaltung des Konfliktes hat eine wesentliche Qualität: Die Existenz der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft wird bereits als selbstverständlich
gezeigt und der Eintritt in die LPG als erstrebenswertes Ziel. Das Publikum ist
daher mit Krischan empört darüber, daß die Bauern so stur sind, Marie den Eintritt zu
verweigern. So wird das Ganze keine Lektion über die Vorzüge der LPG, sondern ein Schauspiel über Widersprüche in den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen, die sich aus den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen ergeben.
Gerhard
Fabian ist begabt. Er schreibt mit viel Liebe zur Sache und mit gesunder
Naivität, vielleicht ein wenig zu unbekümmert. Seine Dialoge bedürfen hier und
da der straffenden, präzisierenden Bearbeitung, verraten jedoch Blick und Gefühl für dramatische Steigerungen. Wenn
man mit seinem Stück, das nach herkömmlichen
dramatischen Gesetzen gebaut ist,
nicht vollauf zufrieden sein kann, dann deshalb, weil er den Konflikt nicht in seiner ganzen Widersprüchlichkeit
erschöpft und vielfach über abstrakt Menschliches
nicht hinauskommt. Das macht sich besonders bei der Charakterisierung der Marie Hedder
bemerkbar. Sie trägt mehr oder weniger passiv ihr Mißgeschick, rafft sich zwar zur Aussprache mit ihrem ehemaligen Verlobten
auf, gibt sich im übrigen aber als die Geduldete. Warum schenkt der Autor dieser
Figur nicht eine Portion trotzige, bewußte Aktivität?
Das hätte nicht nur der Marie Hedder gedient, sondern
dem Realismus des ganzen Stückes. Auf diese Weise hätte sich auch die Rolle der
Partei im Dorf besser herausarbeiten lassen. Jetzt
blieb sie zu sehr verschwommen.
Überdies
schlägt sich der Autor selbst ein Schnippchen, indem er einen Schriftsteller sich in die Angelegenheit Hedder— LPG einmischen läßt.
Dieser junge Mann namens Blauberg
will den Konflikt nämlich auf seine Flinke-Feder-Manier lösen und kommt damit zu spät. Er kommt so
spät, daß er den Schluß des
Stückes verpatzt: Gerade hat sich Ligowski
entlarvt, da taucht Blauberg auf und stellt
selbstkritisch fest, daß er nie einen guten Roman
zustande bringen werde, wenn er wie hier immer zu spät komme. Aber, lieber Gerhard Fabian, das sollte doch wohl nicht
bewiesen werden! Daß der Blauberg
ein Federfuchser ist, haben wir schon vorher mitbekommen.
Jetzt, am Schluß des Stückes, wollen wir uns unsere
Genugtuung darüber, daß der Marie Hedder Recht
werden wird, nicht zerreden lassen.
Es
gibt, meine ich, zwei Möglichkeiten, das Stück zu inszenieren. Das hängt davon
ab, ob man das Verhalten der Bauern, so wie es sich in der Wirklichkeit
zugetragen hat, ernst nimmt, oder ob
man die Kritik ihres Verhaltens spielt. Die letztere Art der Darstellung
scheint mir die realistischere; denn sie sucht die Widersprüchlichkeit der
Figuren und gibt sich nicht mit dem vordergründigen Gefühl zufrieden. Horst
Reinecke, der Gastregisseur für diese Uraufführung,
wählte die erste Möglichkeit. Sie gestattet der Figur der Marie kaum mehr, als
Mitleid zu erregen. Erni Wilhelm gibt eine schlichte,
bescheidene und einfache junge Frau, die sich in dem neuen Leben auf dem Dorf
nur zaghaft zurechtfindet. Damit zeichnet sie genau das Bild der Rolle, das
der Autor entwirft. Die Regie hätte es bereichern können, indem sie in der
Marie einen gesunden Trotz weckt, ein Aufbegehren gegen die Verbohrtheit der
Bauern. Jetzt gewinnt man den Eindruck, als sei die ganze Aufführung kurz in
sentimentale Theatralik getunkt worden, so daß einige verlorene Tropfen hängengeblieben sind,
die nun vor unseren Augen vertrocknen. Diesen Eindruck vermögen auch Werner Godemann als Werner
Mertens, Alwin Brosch als Krischan und Heinz-Karl
Konrad als Fritz Ligowski nicht zu mindern, die ihre
Figuren treffend zu charakterisieren wissen.
Dem
Theater in der Universitätsstadt Greifswald gebührt Dank für die Uraufführung dieses Stückes, das mutig in dramatisches
Neuland vorstößt; Wir hoffen, unsere kritischen Betrachtungen über das Werk
bald an Hand weiterer Aufführungen ergänzen zu können.
Neues Deutschland, 11. April 1958