„Hinkemann“ von Ernst Toller in der Berliner Volksbühne, Regie Andreas Kriegenburg

 

 

 

Morden unter Gelächter

 

Keine Küche einer Arbeiterwohnung. Kein Kochherd. Kein Tisch. Dafür ein gelbrosa gehaltener, vom Portal perspektivisch in die Tiefe der Bühne gezogener, nach hinten offener Kasten (Bühnenbild Christian Beck). Darin einsam auf einem Stuhl, mit wallendem Haar, mit dem Rücken zum Publikum: eine alte Frau (Karin Ugowski), boshaft lachend und keifend. Hinkemann (Torsten Ranft) und seine Frau Grete (Annett Kruschke) stehen derweil im Hintergrund noch außerhalb der Szene.

So - theaterästhetisch etwa in der Mitte zwischen Robert Wilson und Frank Castorf - läßt Andreas Kriegenburg an der Berliner Volksbühne Ernst Tollers Tragödie „Hinkemann" beginnen. Und so fährt er auch fort. Er hat das expressionistische Stück vom naturalistischen Fleische befreit und zeigt das Skelett. Was bleibt und immerhin eine bemerkenswerte Aufführung ergibt, ist das zeitlose Symbol. Der deutsche Held Hinkemann, der im ersten Weltkrieg entmannte Soldat, wird zum Prototyp des sozial entwurzelten und schamlos ausgebeuteten Proletariers.

Die politische Brisanz, wie zur Zeit der Uraufführung des „Hinkemann" in Leipzig im September 1923 und Januar 1924 bei der Aufführung in Dresden, hat diese deutsche Tragödie heute zwangsläufig nicht mehr. Damals stritten sich nicht nur prominente Kritiker, damals formierte sich reaktionäre Gegnerschaft in aller Öffentlichkeit.

Nun war das Stück Anfang der 20er Jahre mitten in scharfe soziale Auseinandersetzungen geraten. Die Reichswehr war in Sachsen und Thüringen einmarschiert, der Reichstag beschloß das „Ermächtigungsgesetz", und nach der Niederschlagung des Hamburger Aufstandes frohlockten Revanchisten aller Couleur. Dennoch war nach der Revolution eine leise Hoffnung geblieben auf eine gerechtere Gesellschaft. In Tollers Stück knüpft sie sich, verborgen, kaum wahrnehmbar, an Hinkemanns junge, gesunde Frau Grete. Selbst diese letzte, schwache Hoffnung der 20er Jahre ist heute, 70 Jahre später, erloschen.

Virulenter denn je aber ist eine Erkenntnis Tollers: Die Menschen morden sich unter Gelächter! Hinkemann verzweifelt nicht nur, weil er seiner Frau nicht mehr beiwohnen kann. Er zerbricht an der Vertiertheit der Menschen, die groteskerweise als Kultur ausgegeben wird. Der Schaubudenbesitzer (Winfried Wagner) steht dafür. Um eben diese ungeheuerliche Sentenz choreographierte Kriegenburg Fabel und Texte des Stückes.

Er hat auf die Kampfszene der Kriegsinvaliden verzichtet, hat die Orgie der Zeitungsjungen weggelassen. Er hat sich konzentriert auf das Schicksal des Hinkemann und dessen Frau, wobei er körpersprachlich phantasievoll und extensiv sowie szenisch intensiv vorführt, wie die beiden aneinander leiden, wie ihre unerfüllt bleibende Liebe sie zu Handlungen immer gefährlicher am Rande des Wahnsinns treibt.

Hinkemann begreift, er hätte sich dem Krieg der Profiteure verweigern müssen. Nun, als Krüppel, hat er „hier nichts zu suchen auf dieser Erde, so wie sie da eingerichtet ist... in der jeder nur gilt, was er nützt". Und die gesunde Grete, die einen flüchtigen Rausch mit dem Hallodri Großhahn (Stephan Richter) hinter sich gebracht hat, findet, obzwar von ihrem Mann dazu aufgefordert, weder Mut noch Kraft, für eine neue Welt zu kämpfen. Sie stürzt sich in den Tod. Hinkemann steht wehklagend an ihrer Leiche, kolossal und lächerlich... Dies die Tragödie bei Toller. Damals.

Heute? Kriegenburg zeigt die Farce. Bei ihm erschießt der Anarchist Knatsch (Gerd Preusche) das sich verzweifelt mit dem Leben herumquälende Ehepaar. Das ist eine Konsequenz der Symbolisierung, die nachzuvollziehen schwer fällt. Daß Knatsch und der Arbeitertheoretiker Unbeschwert (Ulrich Voß) als gemütliche Clowns auftreten, macht sie zwar zeitgerecht lächerlich, aber ihre Argumente nicht uninteressant. Im Gegenteil. Sie bekommen eine verfremdete Aktualität. Daß Knatsch aber plötzlich zum deus ex machina mutiert, ist naturalistischer als Toller je versucht hätte. Und dennoch: Wieviel Wahrheit! Denn da ist weit und breit keine Lösung für die Probleme des geschundenen Individuums. Herzlosigkeit, Ungerechtigkeit, Aggressivität und Chaos nehmen ihm die Luft zum Atmen.

Ein wichtiger Abend für das deutsche Theater.

 

 

Neues Deutschland, 20. Februar 1995