Rolf Hochhuth wird siebzig

 

 

Verteidigung des Individuums

 

 

„Der Irrsinn ist bei den einzelnen etwas Seltenes  -  aber bei Gruppen, Parteien, Völkern und Zeiten die Regel!“ Ein bestürzend wahrer Satz Nietzsches, zitiert von Rolf Hochhuth in seiner Traktaten-Sammlung „Zwischen Sylt und Wilhelmstraße“, vorgelegt zu seinem 70.Geburtstag vom Verlag Volk & Welt. Besser als sonst ein Gedanke in dieser Schrift erfasst das Zitat, wogegen der deutsche Schriftsteller mit plastisch bildhafter Sprache prosaisch anschreibt: gegen den Irrsinn  -  sowohl bei einzelnen als auch bei Gruppen, Parteien und Völkern.

 

Wobei er ein höchst eigenes Wertesystem demonstriert, beflügelt von einem aus sozialen Zwängen und Notwendigkeiten herausgelösten rigorosen idealistischen Moralismus, kulminierend in einem eigenwillig ausgeprägten Sinn für gedeihliche oder seines Erachtens schädliche gesellschaftliche Taten und Prozesse. Seine bevorzugten Themen: Wohl und Wehe des Individuums, Nazismus in Deutschland und Versagen des Staates in Fragen sozialer Gerechtigkeit.

 

Realitätsgenau wie in seinen Stücken (u.a. „Der Stellvertreter“ 1963, „Juristen“ 1979, „Wessis in Weimar“ 1993) recherchiert, sammelt, analysiert, kommentiert und kritisiert der Schriftsteller in Essays, Reden, Gedichten, Maximen und Reflexionen aus den Jahren 1986 bis 2000 historische Ereignisse sowie dort hinein verstrickte menschliche Schicksale. Ich vermag ihm nicht bei jedem seiner Schlüsse zu folgen (und da-rüber wird zu reden sein), aber ich begrüße nachdrücklich die schonungslose Offenheit, mit der er einzelne oder komplexe Geschehnisse der Vergessenheit entreißt, zum Beispiel wie er in Erinnerung ruft, welch Unheil von Deutschen im Geiste und im Sog ihrer „tragenden Ideen“ angerichtet wurde.

 

Das ist eine der aufregendsten Erkenntnisse, die Hochhuth vermittelt, dass bestimmte Wahnideen ganze Generationen einer Nation ergreifen, führen und verführen können, geboren aus dem Zeitgeist und ihn bis zu maßloser Verblendung befördernd. Im Grunde schreibt der Autor an einer „Geschichte der geistigen Verblendung“ der Menschen. In dem Traktat „Skagerak-Schlacht: Parabel zum SDI-Rüsten“ aus dem Jahre 1986 macht er die Problematik am deutschen Rüstungswahn fest, angefangen beim „Letzten Wilhelm“ und dessen hirnrissiger Seekriegs-Rüstung bis zur deutschen Wehrmacht unter Hitlers kriegswahnsinniger Generalität. „...es gibt“, schreibt er, „keine rationale Erklärung, warum in Deutschland die Generation, die auf jene Bismarcks und auch noch auf die des Kronprinzen Friedrich (Jahrgang 1831) gefolgt ist, der Idee anheim fiel, Weltgeltung beruhe auf See-Geltung. Wahnidee dieser Generation: Europäische Nationen ohne ausgedehnte Kolonien müssten buchstäblich verhungern!“

 

Hochhuth operiert im wesentlichen mit Zitaten, Ausschnitten aus Briefen, Reden und Dokumenten, ungeheuerliche zuweilen und kaum fassbare, beschreibt das geistige Umfeld, doch selten macht er die eigentlichen gesellschaftlichen Ursachen dingfest. Ihn bewegen eher die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge. Man kann ihm das nicht vorwerfen (schließlich ist er zwar ein politischer Schriftsteller, aber kein Historiker), so unbefriedigend einseitig das eine oder andere Resümee dadurch gerät. Frappierend dennoch seine Schlussfolgerungen. Vom deutschen Rüstungs-Wahnsinn des „Letzten Wilhelm“ schlägt er einen Bogen hin zur (neuerdings wieder) aktuellen ideellen Kriegsvorbereitung der USA in Gestalt ihres geplanten himmlischen Raketen-Abwehr-Systems, gekoppelt mit der Mär von der angeblichen Bedrohung ihrer Weltherrschaft.

 

Hier findet sich, nicht unbedingt auffallend, ein aufschlussreicher Hinweis auf Ursachen. Hochhuth fügt ein Gedicht ein, „Schweigen in God’s Own Country“ genannt, mit dem er erhellt, auf welch fragwürdigem geistigen Grund heutiger amerikanischer Rüstungswahnsinn gedeiht. Nämlich auf der als selbstverständlich ins gesellschaftliche Bewusstsein integrierten Ideologie der Vernichtung von acht Millionen Menschen, der Indianer, durch „Siedler (!), und zwar in einer Epoche, in der Wien und Madrid kaum hunderttausend Menschen zählten. „An Gewissensbissen“, schreibt Hochhuth, „litt Good’s own Country nie...“ Das wird auch hinfort nicht zu erwarten sein. Hier ist nicht nur eine Generation infiziert, hier ist es eine Nation. Und deren neuer Präsident scheint allen Wert darauf zu legen, dass diese verdeckte und verdrängte Killer-Ideologie, basierend auf den „Leichen im Keller“, virulent bleibt. Alle halben Jahre etwa bricht diese latente geistige Mentalität neuerdings offen auf: Irgendein junger Amerikaner läuft Amok und killt ein paar Mitschüler  -  und die Nation rätselt.

 

Angesichts der verdeckten Wahnideen in den USA ist Hochhuths Befürchtung verständlich, die Ausweitung der NATO nach Osten werde die Russen endgültig in die Arme der Chinesen treiben. Man muss ihm bei derartigen Erwägungen nicht unbedingt zustimmen. Aber auch dies gehört zur Eigenart seiner Ausführungen, dass er historische Vorgänge nach möglichen künftigen Konsequenzen befragt. Das mag mehr oder weniger spekulativ sein, doch weil er stets gründlich arbeitet, erdrückend schlüssiges Material ausbreitet, kann man sich seinen Gedanken meist schwer entziehen.

 

Obwohl er meines Erachtens hin und wieder zu eifrig verallgemeinert. In seiner Osnabrücker Rede „Die Wehrmacht  -  wir alle!“ aus dem Jahre 1999 zum Beispiel spricht er von „unserem“ Überfall auf Polen und behauptet schlankweg, wir Deutschen allesamt würden uns bis heute einreden: „die ach so bösen Nazis und ihre ach so ehrenhafte Armee!“ Hier irrt Hochhuth, hier unterliegt selbst er den Wahnideen der in Deutschland leider noch immer existenten und auch meinungsbildenden Kriegskaste, der glücklicherweise vierzig Jahre lang der Zugriff auf einen Teil Deutschlands versagt geblieben ist. Ich lebte in diesem Teil und habe, aufgeklärt nach 1945, die Wehrmacht nicht für „ehrenhaft“ gehalten.

 

Wie übrigens Hochhuth auch irrt, wenn er in diesem Zusammenhang den Ost-deutschen mal schnell eins überbrät und ihnen „Mitläufertum“ unterstellt, weil sie angeblich in die SED eingetreten seien, um ihren Kindern höhere Schulbildung zu verschaffen. Nein, junge Leute sind damals in die SED eingetreten, weil sie erlebten, dass dort bewährte, von den Nazis verfolgte, in KZs gesperrte Antifaschisten das Sagen hatten und Front machten gegen die Herren Filbinger und Konsorten im Westen Deutschlands! Allein die Ungeheuerlichkeit der „Rechts-Urteile“ der deutschen Wehrmacht-Richter, die Hochhuth anprangert (sie fällten 24559 Todesurteile bis Ende Januar 1945 und  -  was nie exakt gezählt wurde  -  bis 6000 in den fünf Monaten bis zur Kapitulation!), konnte einen jungen Menschen nach 1945 veranlassen, von der Werra nicht nach Basel zu ziehen, sondern (Hegel: „der Geist ist, was er tut!“) sich dort zu engagieren, wo mit hoher Wahrscheinlichkeit antifaschistisch gehandelt wurde.

 

Rolf Hochhuth, der immerhin ehrlich zugibt, dass er „nie im Leben irgend etwas politisch riskiert hat“, geriert sich als letztlich leider in Denkdogmen der kalten Krieger befangen, wenn er sich in seiner Rede „Der 17.Juni“, gehalten 1997 im Berliner Abgeordnetenhaus, nicht scheut, das „Dritte Reich“ nachdrücklich mit dem „SED-Staat“ gleichzusetzen. Da ist plötzlich alle Objektivität im Eimer, um die er sich sonst so zu bemühen scheint. Fährerweise hätte sich gehört, in diesem Zusammenhang nicht zu verschweigen, dass es damals in diesem „SED-Staat“ auch zahlreiche junge Bürger gab, die wussten, wie eine Anna Seghers, ein Bertolt Brecht oder ein Arnold Zweig für die junge antifaschistische DDR eintraten, die befürchteten, „Freislers Kollegen“, im Westen noch immer in Amt und Würden, bekämen auch im Osten wieder die juristische Macht; ja, die sogar die Angst umtrieb, die Eskalation des Aufstandes könne den dritten Weltkrieg auslösen, wo sie doch gerade den zweiten glücklich überlebt hatten. Und wo bleibt Hochhuths Verweis auf das finstere Spiel der Geheimdienste an jenem, wie er meint, „hohen Gedenktag“ der Deutschen? Mir scheint, es ist ganz und gar kein Zufall, wenn geschieht, was Hochhuth beklagt, dass nämlich die im geeinten Deutschland Re-gierenden an der offenen Aufarbeitung dieses Tages so brennend nicht interessiert sind.

 

Durch einseitige Auslassungen Hochhuths kritisch gestimmt, versehe ich dessen waghalsige Thesen über mörderisches Einzelgängertum mit einem großen Fragezeichen. Er erinnert  -  was zweifellos ein Verdienst ist  -  in seinem Vortrag „Johann Georg Elser  -  Der Einsamste“, gehalten 1999 in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, an Johann Georg Elser, den einsamen Attentäter auf Hitler im Münchner „Bürgerbräu“, und moniert zu Recht, dass Elsers Name in keinem deutschen Lexikon auftaucht. Aber mit Schillers „Tell“ zu begründen, dass es legitim sei, einen Tyrannen „von Bord zu schießen“, gehört nun wirklich ins Reich der Poesie und entbehrt Sinn für die Realität. Niemand kann voraussehen, ob Mord nicht ganz und gar ungewollte Folgen hat, beispielsweise einem grausamen Nachfolger den Weg ebnet. Auf Lenin folgte Stalin. Und wird nicht mit dem Lobpreisen des mörderischen Einzelgängers letztlich sogar ein Tor aufgestoßen zu dem, was in Gestalt terroristischer Anschläge die Menschen beunruhigt  -  in Israel, in Spanien oder im Kaukasus? Wo sind die Grenzen? Wer zieht sie? Hochhuth? Wo etwa wäre der Mörder Jizhak Rabins einzuordnen?

 

Kein Zweifel dennoch, Rolf Hochhuth ist ein kämpferischer, ein unerschrockener Schriftsteller, einer der letzten aus der Nachkriegs-Generation, die fest in der Tradition humanistischer deutscher Literatur stand. Hier ist nicht der Platz, seine Verdienste als Dramatiker zu würdigen oder die als Romancier und Erzähler (soeben erscheinen bei Rowohlt „Alle Erzählungen, Romane und Gedichte“). Hier kann nur von der jüngsten Publikation des nun Siebzigjährigen gesprochen werden. Sie ist, will mir scheinen, kein Kompendium eines Literaten, der vom Alterssitz herunter weise mahnt und grollt, sondern eher die eines Schreibers, der nach wie vor mitten im Lebens steht und sich einmischt, ja einmischen muss. Anders als die meisten seiner Kollegen schweigt er nicht, nimmt er nicht hin, sondern protestiert. Selbst mit seinen Gedichten und Aphorismen, die neben ganz persönlichen Sorgen, Nöten und Hoffnungen des alternden Mannes auch markante Rufe eines unverdrossenen Aufklärers sind in einer Gesellschaft, die, wie er bitter registriert, bis in die Ministerialbürokratie hinein neonazistisch verseucht ist. Wie anders wäre zu kommentieren, dass jüngst Hochhuths Roman „Eine Liebe in Deutschland“ in Baden-Württemberg als obligatorische Schullektüre gestrichen wurde, just der Roman, der zum Sturze Filbingers führte, Hitlers Marinerichter, der nach 1945 in Baden-Württemberg Ministerpräsident hatte werden können.

 

Rolf Hochhuths geistiges Vorbild, sein „leitender Denker“, ist der Schweizer Kultur- und Kunsthistoriker Jakob Burckhardt (1818/97), ein „Jahrgänger von Marx“, auf den er immer wieder zu sprechen kommt, den er immer wieder zitiert. Er preist die „Burckhardtsche Erfahrung“: „Wo ich nicht von der Anschauung ausgehen kann, da leiste ich nichts“. Besonders anschaulich argumentiert Hochhuth in seinem Vortrag „Burckhardt, Bismarck und das ‚Recht auf Arbeit’“ aus dem Jahre 1997, in dem er nachdrücklich des Reichskanzlers soziales Streben belegt sowie dessen „Staatssozialismus“ und beharrliches Eintreten für die sozial Schwachen preist. Und im Vergleich zu Bismarck und der DDR macht er die kläglich antisoziale Politik der heutigen sozial-demokratischen Schröder-Regierung bewusst, die mit den „neuen Feudalherren in den Chefetagen der Banken und Truste“ paktiert.

 

Zwei Novitäten, sagt Hochhuth, regieren den Arbeitsmarkt: „Erstens, das Wissen sehr vieler, dass sie bereits in sehr produktiven Lebensjahren keine Chance mehr haben, je wieder eingegliedert zu werden in den Arbeitsprozess. Zweitens, dass die Herren der Märkte  -  ich glaube: auch zum erstenmal!  -  gar kein Hehl mehr daraus machen, selbst in Rekordgewinn-Jahren ihre Firmen nach der Parole zu regieren: Der Mensch ist für die Wirtschaft da  -  nicht die Wirtschaft für den Menschen. Und dass die Firmen also auch dann, wenn kein finanzieller Zwang sie dazu treibt, so viele Mitarbeiter wie möglich ‚aussanieren’, gemäß ihrem geheimgehaltenen Erfolgsrezept: die Gewinne dem Betrieb, die Schulden der öffentlichen Hand... Diese heutige Machtergreifung des Wirtschaftsdarwinismus ist die Konterrevolution!“

 

Geballte Ladungen geistigen Dynamits. Plötzlich wird einem klar, warum eigentlich das gepflegte bürgerliche Feuilleton den gefährlich plebejischen Schriftsteller so gern schmäht. Obwohl zurückhaltend, was aktuelle politische Prozesse betrifft (zum Beispiel sieht Hochhuth derzeit keine deutsche Linkspartei!), positioniert er sich so mutig wie eindeutig gegen Rechts. Wobei er zum substantiellen Kern des Problems vordringt. In seinem Statement „Die ‚neue Rechte’: Die Wirtschaft“ erklärt er unverblümt: “Die ‚sogenannte Neue Rechte in Deutschland’, das ist die uralte Rechte, das sind jene  -  heute meist gar nicht mehr allein deutschen  -  Konzernleitungen, die schon Ende der zwanziger Jahre jene sechs Millionen Arbeitslose produzierten, die dann Hitler zum Reichskanzler gemacht haben... Die Neue Rechte  -  das sind nicht die Schönhubers, die Haiders: So harmlos ist sie nicht! Die Neue Rechte, das ist die internationale Wirtschaft, für die der Mensch so völlig einseitig zum Ausbeutungsobjekt wurde, dass die Wirtschaft sogar übersieht, dass sie doch immerhin den Menschen als Kunden braucht und Arbeitnehmer besser ausbeuten könnte als nur Arbeitslose...“ Und Hochhuth, die Ohnmacht aller aufrechten Bürger subsumierend, resümiert: „Wie die Menschheit sich ihrer erwehren könnte, dieser Neuen Rechten, ich weiß es nicht, wie sollte ich.“ Um dann aber lakonisch und knapp zu konstatieren: „So dass nur eine Revolution diese so systematische wie gewissenlose Vernichtung von Arbeitsplätzen abstellen kann!“ Also doch eine Perspektive  -  auch für das Individuum!

 

Eine widersprüchliche, eine beunruhigende Lektüre, ganz und gar nicht alltäglich in diesem Deutschland der von der Steuer befreiten Millionäre, nicht eingängig zu lesen, aber sehr zu empfehlen.

 

 

Neues Deutschland vom 1. April 2001