„Die Hochzeitsreise“ von Vladimir Sorokin an der
Volksbühne Berlin, Regie Frank Castorf
Wenn die Pfuinanzen stimmen
Manchmal gewinnt man den Eindruck, Spielvogt Frank Castorf würzt sich die Proben, indem er seine Truppe ein bißchen tyrannisiert. Als Ergebnis sind in den Aufführungen waghalsige Rutschpartien, kühne Klettereien und dergleichen Kunststückchen mehr zu bewundern (oder Nachrichten zu registrieren, wie kürzlich die über Henry Hübchens tiefen Fall von der Probe aufs Krankenlager). Wenn derlei in der großräumigen Volksbühne geschieht, bleiben die Strapazen der Darsteller letztlich im Hintergrund. Diesmal, bei Gelegenheit der Uraufführung des Textes „Die Hochzeitsreise" von Vladimir Sorokin im Berliner Prater, wo das Publikum im Spielraum von Bert Neumann dicht am Geschehen sitzt, fallen sie auf.
Castorf treibt eine seiner Schauspielerinnen von einer Tortur
in die andere. Carolin Mylord muß mit nacktem Oberkörper zwischen die Zuschauer
treten. Sie muß mit Waschpulver kiffen. Sie hat sich kaltes Wasser über den Leib
zu kippen und anschließend in der Pfütze zu sielen. Theatrale Späße, mehr oder
weniger beredt, ohne die offenbar nicht mehr auszukommen ist. Doch dies: Um
die groteske Situation zu zeigen, wie ein liebestolles Weib ihrem sie
abweisenden Mann unter allen Umständen hinterher steigt, muß die
Schauspielerin extrem hochhackige Schuhe anziehen und dem Herrn nachstaksen,
zum Beispiel über wackelige Kinositze hinweg. Schließlich muß sie auf einer fast
meterhoch aufgeschichteten schmalen Steinmauer entlang balancieren, sich auf
ihre Schienbeine niederhocken, so daß die Steinkanten einschneiden, und
minutiös ihren Text hersagen. Wie kann ein Regisseur so abenteuerlich mit der
Gesundheit seiner Spielerin jonglieren? Ist da kein beherzter Darsteller, der
ihm in den Arm fällt? So kann es gehen, wenn einer die Macht hat. Jedenfalls
hat das mit Kunst nichts mehr, aber fatal mit Sadismus
zu tun.
Indessen will Castorf just mit diesem Abend
psychische Folgen tyrannischer Regentschaft Vorführen. Der Text Sorokins,
eines Vertreters der russischen „Ästhetik des Widerlichen", bietet
Gelegenheit. Der Autor, der in Rußland wahrscheinlich eine Marktlücke in Sachen
„Perversion" und „Pornographie" füllt, liefert ein „Vaudeville"
über eine junge russische Jüdin, die vom Regen in die Traufe kommt. Mascha
Rubinstein, ein kleines Hürchen, verläßt Moskau und ihre Mutter, eine
Untersuchungsrichterin des NKWD, und landet in Paris in den Armen eines reichen
Deutschen, der der Sohn eines SS-Oberführers ist. Pech obendrein. Ihr Günther
von Nebeldorf, seelische Folge bei diesem Vater, ist kalt wie Marmor und
impotent.
Was Sorokin mystisch drapiert
(Mascha tritt doppelt auf, und sechs „Geschöpfe unbestimmten
Geschlechts" mischen sich ein), reduziert Castorf auf den Extrakt, wobei
für den Interessenten an der Kasse liebenswürdigerweise der komplette Text
geliefert wird. Zu besichtigen ist eine Farce über das pfuistische Leben mit
Nutzung eines Wortes, für das Alfred Jarry vor hundert Jahren vornehm das Wort
„Schreiße" erfand. Während Sorokin irgendwie Charaktere vorschweben, gibt
Castorf a priori Karikaturen.
Mascha l wird von Jeanette Spassowa perfekt als Jüdin mit
russischer Seele vorgestellt, eine himmlische Ziege der Einfalt, mit geiler
Lust aufs Vögeln. Ihre große Nummer ist freilich das Preisen des Wodka-Trinkens,
nämlich mit Salzgurken und vor allem mit einer Idee, was die Deutschen ja leider
nicht beherrschen. Fürs Lieben ist Mascha 2 zuständig, von Carolin Mylord vor
allem akrobatisch vorgeführt. Ihre große Nummer ist die mit ihrem russischen
Psychiater Mark (Gerd Preusche), den sie erst einmal vernascht, weil ja ihr
verklemmter, stotternder Günther (Bernhard Schütz) aus Marmor ist. Das ändert
sich mit Marks Hilfe. Auf der Hochzeitsreise quer durch die Bundesrepublik
hin zum Obersalzberg löst sich Günthers Frust. Doch das kurze Glück endet mit
einem Unfall. Ihr Porsche kollidiert mit einem LKW der Firma
„Marmorschweine". Angeblich marmorisiert Günther nun wieder. Was
wahrscheinlich Heraufziehen neofaschistischer Gefahr bedeuten soll. Aber
weder Autor noch Regisseur wissen ein plausibles Ende. Es verläppert sich in
Deklarationen.
Dennoch ein Fazit? Sag ich mal so: Welch irres Leben! Überall neurotisch
zerfranste Menschen. Weder kümmert sie Faschismus hier, noch Stalinismus dort.
Wichtig allein ist das Vögeln, und für eine Frau ein Mann im Bett, bei dem die „Pfuinanzen"
stimmen.
Neues
Deutschland, 7. November 1995