„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ nach Stevenson an der Volksbühne Berlin, Regie Michael Simon

 

 

 

Lust an der Grausamkeit

 

Links ragt ein Förderband vom Proszenium weit hinein in den Zuschauerraum der Volksbüh­ne. Rechts sitzt ein Gelehrter auf mittelalterlich herrschaftli­chem Stuhle. Vor ihm liegen Bücher gestapelt auf einem klobigen hölzernen Tisch. Der Herr kramt mäßig geschäftig herum, noch während die Zu­schauer den dunkel gehaltenen Saal füllen. Von links oben, von einem Sitz am Portal, meldet sich ein Sprecher und schnauft und wispert unverständliches Zeug in ein Mikrophon. Weit hinten auf der Drehbühne, glit­zernd, ist ein zweites Förder­band zu erkennen, daneben, schwarz, so etwas wie eine überdimensionale Pranke. Es könnte das aber auch die Kral­le eines riesigen Vogels sein.

Noch während man damit beschäftigt ist, diese Mischung von moderner Bautechnik, na­turalistischer Requisite und sti­lisiertem Design zu sortieren - eigentlich hatte man ja das winkelige, düstere Soho er­wartet -, schlurft ein Faktotum heran. Der Gelehrte übergibt wortlos ein Dokument. Plötz­lich liegt ein weibliches Wesen verkrümmt am Portal. Leute posieren Entsetzen. Der Herr eilt hinzu, erstarrt. Dann senkt sich der Eiserne Vorhang vor der Szene. Das Spiel scheint endlich in Gang zu kommen.

Im Verlaufe des Abends mit „Dr. Jekyll und Mr. Hyde", von Michael Simon mit den Schau­spielern frei nach dem frühen Krimi des Robert Louis Ste­venson (1886) erarbeitet, wird der Zuschauer grundsätzlich immer ein wenig im Ungewis­sen gelassen. Das ist sozusagen genregerecht. Doch die Pro­portionen sind verschoben. Was sich zuträgt, ist nicht neu­romantischer Phantasie ent­sprungen, sondern zeitgenös­sischem Kalkül, ist ein grotes­kes Spektakel (Textnieder­schrift: Bettina Erasmy), aufgepeppt mit schrillen, überfallartigen Tönen (Musik Jörn Brandenburg), gemacht für vordergründiges Amüsement.
Meist von durchaus ästheti­schem Outfit, manchmal aller­dings wie arrangiert für den
primitiv-erotischen Ge­schmack der heutigen Me­diengesellschaft.

Das Geschehen handelt von einer urromantischen Idee, von der Möglichkeit der Spaltung des Menschen in eine gute und in eine dämonische Hälfte. Doch was bei Stevenson Kritik war an der psychologischen Si­tuation des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft, was Hinweis war auf den Zwang, gleichsam ein Doppelleben führen zu müssen, eine Maske anzulegen, um die mehr oder weniger vorgeschriebene Rolle im Leben durchhalten zu kön­nen, erkundete Autor, Büh­nenbildner und Regisseur Mi­chael Simon nicht. Er erzählt kein ursächlich auch soziales Phänomen, sondern den ver­brecherischen Fall.

Der Gelehrte Dr. Jekyll legt bei dem Versuch, das Gute vom Bösen in seiner Person zu tren­nen, ungewollt den Mörder in sich frei. Fortan führt er nach Belieben eine Doppelexistenz. Seine „unwürdigen Vergnü­gungen" als Sklave des Bösen, die Stevenson nur nennt, nicht beschreibt, erfindet Simon als schaurige Szenen. Das korre­spondiert mit der Phantastik der Geschichte, gibt ihr aber eine andere künstlerische Di­mension.

Der Regisseur ist erfahren im als modern geltenden Show-Theater, das Effekte mehr mag als Erkenntnis. Auch kennt er sich aus in der sogenannten „Performance-Ästhetik". („Er erfindet aus der Leere mit einfachen Versatz­stücken und Licht immer wie­der neue Räume, die sich im nächsten Moment ins Nichts auflösen können.") Hier funk­tioniert er seine Darsteller um zu Figuranten, die Effekte ab­arbeiten. Wozu waghalsige akrobatische Eskapaden gehö­ren.

Das Ensemble kommt damit zurecht. Olivia Grigolli, Isabella Parkinson, Annekathrin Bür­ger, Hildegard Alex, Karin Ugowski, Ulrich Voß, Günter Zschäckel, Bodo Krämer, Bru­no Cathomas. Vorzüglich Her­bert Fritsch. Sein Dr. Jekyll ist ein steif korrekter Gentleman. Den Bösewicht Hyde, mit Fell auf den Händen und über die Nase gedrücktem Zylinder, gibt er als meist an sich selbst lei­denden, verkrampften, kräch­zenden Unhold. Erst einmal auf Tour, steigt der schon mal in den Zuschauerraum, greift sich eine Besucherin (Karin Mikityla) und nimmt sie sich außerhalb an der Saaltür vor. Wenn Hyde die Sängerin Ivy aus dem Nachtclub sadomasochistisch drangsaliert, zerrt er den Tisch mit dem Opfer vor an die Rampe. Diese Ivy wird von Sophie Rois kreiert, der ex­tensiven, superironischen Mimin mit der rostigen Stimme. Sie legt live eine Madonna-Imi­tation hin, die sich sehen und hören lassen kann. Und sie nö­tigt den vom Schrecken über Hydes Verbrechen erstarrten Herrn Utterson (Bernhard Schütz) zu einem Liebesritt, wie er als theatrale Parodie drastischer schwerlich geboten werden kann.

Letztlich wird von Michael Simon weniger das Geheim­nisvolle des frühen Krimis bedient, schon gar nicht der von Stevenson implizierte Drang des Menschen nach Wissen über Bewußtes und Unbewuß­tes, vielmehr pflegt er einiger­maßen makaber die eskalie­rende zeitgenössische Lust an der Grausamkeit. Der ironi­sche Jux des Finales, das Ab­murksen aller Figuren, kann das nicht kaschieren.

 

 

Neues Deutschland, 22. Dezember 1995