„Die
heilige Johanna der Schlachthöfe“ von Bertolt Brecht an der Berliner
Schaubühne, Regie Tom Kühnel
Das Ereignis
im Kontext des diesjährigen Berliner Theatertreffens war Bertolt Brechts „Heilige
Johanna der Schlachthöfe“ in einer gemeinsamen Produktion der Berliner
Schaubühne und des Frankfurter TAT-Theaters. Freilich nicht nominiert! Was
immer die Damen und Herren der Jury bewogen haben mag, diese hervorragende
Inszenierung Tom Kühnels (Premiere im Januar in Frankfurt/Main) zu ignorieren;
hier sei denen Dank gesagt, die dafür gesorgt haben, dass die Aufführung
dennoch in der Hauptstadt zu sehen war.
Ich gerate ins
Schwärmen. Und das ist verdammt selten geworden im letzten Jahrzehnt. Eine
junge, spürbar für ihr Anliegen engagierte Truppe bringt Bertolt Brecht frisch,
unverbraucht, in einer wahrhaft produktiven, den Dichter solid weiter denkenden
Inszenierung. Tom Kühnel, jener fähige Regisseur, der Schauspieler und Puppen
zu so originärer wie origineller theatraler Schau zu fügen versteht, fasziniert
mit einem geradezu genialen Einfall: Er macht die Auseinandersetzung zwischen
den Ausbeutern und den Arbeitern, die im vorigen Jahrhundert im wesentlichen
noch eine nationale war, schaubar als eine inzwischen internationale, und das
faszinierend verfremdet durch große, ausdrucksvolle Handpuppen (zuständig Suse
Wächter). Sie symbolisieren hier gleichzeitig die durch den Chikagaoer
Fleischkönig Pierpont Mauler Ausgebeuteten und die Vertreter der dritten Welt.
So bringt der
Regisseur eine überzeugend beredte poetische Dimension ins Stück, das ja
wahrhaftig kein Meisterwerk literarischer Geschlossenheit ist, aber, wie sich
bei Kühnel zeigt, ein Text von höchst aktueller Wirkkraft. Wahrhaftig: Theater
macht noch Sinn!
Was vermutlich
als längst „historisch überholt“ empfunden worden wäre, hätten Schauspieler die
Parts der Arbeiter gespielt, bekommt durch das still-demütige, lebenswahre
Agieren der Puppen (höchst feinsinnig geführt von Jörg Teichgräber, Peter Lutz,
Suse Wächter, Mathis Freygang, Esther Nicklas, Rike Schubert, Paul Viebeg und
Heidrun Warmuth) eine assoziative Ausstrahlung, die nicht nur dem Werk Brechts
überaus angemessen ist, sondern aktuell erinnert, wie verbindlich realistisch
der Dichter einst die gnadenlose Erbarmungslosigkeit der Profitgesellschaft
spiegelte und entlarvte. Der von Mauler initiierte „Ausflug“ Johannas in die
„Tiefen“ der Schlachthöfe beispielsweise
- erschütternde Begegnung hier
mit Arbeitssklaven, die in afrikanischen Bergwerken unter unsäglichen
Bedingungen den Rohstoff für die Tandalkondensatoren der Handys gewinnen. Wenn
schließlich die Kinder der Ausgebeuteten mit umgehängten Gewehren ins Spiel
kommen, ist das nicht nur ein schlüssiger Hinweis auf Johannas späte Erkenntnis
(„Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht!“), es ist dies auch souverän
erzählt, nämlich nicht simpel naturalistisch, sondern zu berührender szenischer
Poesie erhoben.
Überhaupt
Johanna! Welch gültige, welch hinreißende Darstellung durch Anne Tismer. Ich
scheue mich nicht, sie in eine Reihe neben große Brecht-Darstellerinnen wie
Käthe Reichel oder Regine Lutz zu stellen. Sie spielt deren schauspielerisches
Erbe fort. Da agiert klaren und hellen Sinnes und forschen Mutes ein himmlisch
naives Menschenkind, ganz hingegeben seinem Glauben an die Mission der
„Schwarzen Strohhüte“, der Heilsarmee, tapfer gläubig auf die Armen einredend,
die Argumente mit ungelenken Gesten unschuldiger Redlichkeit stützend. Anne
Tismer gibt die gottvolle Lauterkeit der Johanna mit ganzer Hingabe und
erspielt zugleich eine feine Ironie, die die tragikomische Donquichotterie der
Jungfrau akzentuiert, ohne sie zu denunzieren. Denn immerhin schafft die
gläubige Energie dieses außergewöhnlichen Mädchens in Brechts ungewöhnlichem
Theatermärchen, dass Fleischboss Mauler kurzzeitig in sich geht und entgegen
allen Brauchs der Geldhaie Reue zeigt. Was der junge Darsteller Thomas Mehlhorn
übrigens ebenso locker jugendlich absolviert wie die anderen Manipulationen
dieses Großen der Wirtschaft.
Die Bosse sind
halt nicht mehr die bekannten Typen des Agitprop, die beleibten Herren mit
Frack, Zylinder und Zigarre, sondern drahtig-agile Bürohengste coolster
Generation. Die Damen und Herren Jenny Schily (Meyers), Nicolas Rosat (Graham),
Felix Goeser (Cridle), Lars Eidinger (Security), Charly Hübner (Viehzüchter)
und Mathis Freygang (Lennox) meistern das überzeugend.
Eloquenz der
Fabel bis ins Detail. Etwa wie Johanna mit ihrer Kameradin Martha (Bettina
Schneider) wacker gegen die hohnlachende Arroganz der Fabrikanten ansingt, wie
Snyder (Dirk Ossig), der anpassungsfähige Major der Schwarzen Strohhüte,
zwischen den Fronten laviert, wie Graham (Nicolas Rosat) der Kragen platzt und
er dem Mauler eine geharnischte Strafpredigt hält. Nun hat Bühnenbildner Jan
Pappelbaum eine kongeniale Szenerie geschaffen, die Spielfreude geradezu
herausfordert - mehrere mit Firmensymbolen von Mercedes,
Shell, Meyer, Tchibo oder McDonald verzierte und mit Computern ausgestattete
bewegliche Bühnenwagen als ein mobiles Börsen- und Wirtschaftszentrum.
Das
Ensemble - sprecherisch von unterschiedlicher Intensität -
erspielt einen letzten theatralen Höhepunkt, wenn die in ihrem
aufopferungsvollen Kampf für die Armen umgekommene Johanna postum heilig
gesprochen wird, weil das der neuen Koalition zwischen Wirtschaft und
Heilsarmee sehr dienlich sein wird. Medienwirksam verkündet Sullivan Slift
(Eckhard Winkhaus), die rechte Hand Maulers, die Entscheidung in einer
Apotheose, die schönen Bühnenschein mit dem der gnadenlosen Wirklichkeit
realistisch mischt. Ich wiederhole: Theater macht noch Sinn!
Neues
Deutschland, 27. Mai 2002