„Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Günther Gerstner

 

 

 

 

Zeichen skrupelloser Zeiten

 

Friedrich Schillers bürgerli­ches Trauerspiel „Kabale und Liebe" verlängert bis in die Kri­mi-Serien der Neuzeit. Präsi­dent von Walter nicht selbst­herrlich am Hofe eines deutschen Fürsten, sondern als all­mächtiger Mafia-Boss in sei­nem Büro-Hochhaus, an den Rollstuhl gefesselt, von Body­guards abgeschirmt, am Ende nicht gar freiwillig Gefangener des Gerichtsdieners, sondern ein abgefeimter Killer, der so­eben seinen Sekretär Wurm, Luises Vater Miller und seinen Sohn Ferdinand erledigt hat.

So das aktuelle Angebot am Berliner Maxim Gorki Theater. Regisseur Günther Gerstner hat die überkommene dramatische Angelegenheit deutscher Klassik beinhart aktualisiert. Er behauptet, Liebe zwischen oben und unten, zwischen verschiedenen sozialen Ständen, endet heutzutage noch martia­lischer, als sich das der dreiundzwanzigjährige Schiller 1783 in tyrannos aus der Seele fiebern konnte.

Für diese Version haben Gerstner und sein Bühnen­bildner Marcel Keller den Fall aus dem vorgegebenen gesell­schaftlichen Gefüge gelöst und servieren ihn zwischen Cock­tailbar, Büro und Hinterhof als einen modernen, aktionsrei­chen Psycho-Trip. Immerhin: Unser lieber deutscher Klassi­ker endlich einmal wieder auf einer Berliner Bühne. Wenn auch - zweieinhalb Stunden ohne Pause - konzentriert so­zusagen auf die Haupt- und Staatsaktion, der idealistische, von der Geschichte erledigte humanistische Anspruch über­spielt und zu den leidenschaftlichen Dialogen heutig-profane Verhaltensweisen erfunden.

Luise und Ferdinand denn also als ein typisches Liebes­paar unserer rüden Tage. Er schleppt sie zum Sex ins Rot­licht-Milieu, und weil alles nicht so läuft, wie er sich's dachte, haut er ihr in kopflos-inbrünstiger Raserei schon mal eine blutige Nase. Luise ihrer­seits geht dem Wurm kräftig an den Kragen, drischt ihm so derb auf die Finger, daß der offenbar die Engel singen hört. Immer wieder denkt man, die­se tatkräftigen, aufgeklärten Kinder freiheitlicher Rechts­ordnung - Ferdinand glatz­köpfig und auch sonst gern nackig, Luise nur ein ganz klein wenig altmodisch sentimentalisch - diese selbstbe­wußten jungen Leute müßten doch ihre ideologischen Fes­seln sprengen, müßten - wie Lady Milford ihre Koffer - ihre Rucksäcke packen und auf und davon ziehen können. Aber nein, sie fallen wie eh und je auf die Kabale herein! Brief hin, Brief her. Limonade und so weiter. Liebe noch immer nicht stärker als Lug und Trug?

Wenn diese sozial entwur­zelten Bühnengeschöpfe, diese Zeichen skrupelloser Zeiten, dennoch von einiger Glaub­würdigkeit sind, über manche Phasen sogar von spielerischer

Faszination, dann dank Schil­lers dramatischer Menschen­führung, des sinnlichen Emp­findens des Regisseurs, und dank vor allem der realisti­schen Kraft fabelhafter Schau­spieler. Tilo Werners Ferdi­nand ist ein pubertierender Aussteiger, Ideale verlierend, durchdrehend, zerbrechend, weil seine einzige Hoffnung in diesem Leben, die Liebe, sich nicht erfüllt. Franca Kasteins Luise, gestisch diffus, macht Figur, wenn sie ergeben schwärmt oder wild zuhaut. Hansjürgen Hürrig ersitzt im Rollstuhl einen demagogisch eiskalten Präsidenten. Ulrich Anschütz liefert mit vorzügli­cher Grandezza einen eitlen Hofmarschall von Kalb. Robert Lohr stellt einen mit Kaugum­mi, Schlips und Hosenträgern ausstaffierten gewissenlosen Erfüllungsgehilfen Wurm auf die Bretter. Ruth Reinecke und Gottfried Richter bieten ein ty­pisch biederes kleinbürgerli­ches Ehepaar Miller. Susanne Böwe gibt der Maitresse Art und Selbstironie.

Die Inszenierung ist - auch mit musikalisch zeitgenössi­schem Background - bemüht, heutige jugendliche Erlebnis­welt zu bedienen. Als Bil­dungsgut dürfte sie umstritten sein. Daß Schiller ein naher Anverwandter beispielsweise Horváths oder Wedekinds sein könnte, muß nicht unbedingt spekuliert werden. Daß just diesen deutschen Dichter schon bewegte, was noch heu­te bedrückt, und zwar unver­mindert, wenn nicht gar schär­fer, sei lebhafter Diskussion anempfohlen. Viel Beifall.

 

 

Neues Deutschland, 18. April 1996