8.
Der neue Darsteller (1951 – 1962)
Manfred Karge
8.10 Manfred Karge wird Regisseur
Der am 1. März 1938 in
Brandenburg an der Havel als „Kind kleiner Leute“ geborene Manfred Karge verließ
die Schule 1961. Noch heute freut er sich, das große Glück gehabt zu haben,
keine Umwege über die Provinz machen zu müssen, sondern von Helene Weigel als
Absolvent unmittelbar von der Schauspielschule an das Berliner Ensemble geholt
worden zu sein.
Der Zufall
wollte es damals, dass wenige Monate nach Karges Engagement Matthias Langhoff,
Sohn von Wolfgang Langhoff, ebenfalls ans BE engagiert wurde, und sich beide alsbald fanden im gemeinsamen Interesse, Regie zu führen. «Es
war Liebe auf den ersten Blick», erinnert sich Karge. «Wir haben uns gesehen
und waren sofort befreundet.» (8.129) Sie stießen mit ihren
Intentionen bei Helene Weigel auf Gegenliebe, und so entstanden die
überraschend schnell berühmten Brecht-Abende. «Wir wollten immer
Schauspielertheater machen. In sechs Wochen haben wir eine eigene Fassung von 'Mahagonny' erstellt. Dieser 'Brecht-Abend' Nr. 2 wurde ein
Riesenerfolg», erzählt Karge. (8.130) Es folgten
«Messingkauf» Nr. 3 und «Brotladen» Nr. 4.
Karge hatte
mit seinem Freund Langhoff einen Zugang zu Brecht gefunden, der das Wesen des
Dichters nicht leugnete, es vielmehr neu erschloss, zwar durchaus mit Mitteln
des verfremdenden Theaters, aber nicht streng einem Dogma untergeordnet,
sondern frei und im Geiste einer neuen Generation damit spielend.
Als
Schauspieler hatte Karge zunächst in einem DEFA-Film Erfolg. Er spielte 1965
als Gilbert Wolzow in „Die Abenteuer des Werner
Holt“. So verführerisch es war, als junger Star zu gelten, Karge
blieb dem Berliner Ensemble treu, das, wie er heute sagt, seine „wirkliche
Schule wurde“. (8.131) Er holte sich in der Praxis, was im
Mai 1961 die Studenten Stefan Lisewski und Hans-Georg
Simmgen öffentlich für die Schule einforderten.
Dennoch, auch am Berliner Ensemble ließ sich damals nicht alles realisieren,
wovon der junge Regisseur träumte.
Ausgerüstet
nunmehr mit dem aktuellen „BE-Arsenal“, neugierig, es auf eigene Weise
auszuprobieren, zog es Manfred Karge 1969 mit seinem Regiepartner Matthias
Langhoff zu Benno Besson an die Berliner Volksbühne, die damals ihrem Namen
neue Ehre machte. Dort zeigten die beiden „Jungregisseure“ sehr bald ihre ganze
eigene Handschrift. Heiß umstritten 1971 Schillers "Räuber", eine
rigorose Umdeutung des Sturm und Drang-Dramas, die Räuber als kriminelle Gang,
als revoltierende Bande. Ein Versuch zugleich, die 68er-Bewegung ins Spiel zu
bringen - mit unerwarteten Gegenreaktionen. «Es gab ein Verbot für
Schulklassen, in die Aufführung zu gehen. Die Schulverantwortlichen konnten
nicht direkt sagen, dass ihnen die Inszenierung nicht passte und schoben zum
Beispiel vor, dass Karl Moor mit Stiefeln ins Bett geht. Es war
peinlich», erinnert sich der Regisseur. (8.132) Frank Castorf, Intendant der Volksbühne,
spricht von dieser Aufführung als einer "Initialzündung" für seine
Theaterarbeit.
Karge als
Hjalmar Ekdal in Ibsens „Wildente“
In der Regie von Benno Besson
spielte Manfred Karge neben anderen großen Rollen den Hamlet, und in der Regie mit
Matthias Langhoff u.a. Shakespeares Othello (1972) sowie 1973 den Hjalmar Ekdal in Ibsens „Wildente“. Zu aus der Konvention fallenden
Theaterereignissen wurden die aus Zeitstücken bestehenden „Spektakel“, bei
denen auch Karge Regie führte und spielte. „Unsere Absicht war es, auf die
Kurzlebigkeit von Theater hinzuweisen. 25 Jahre lang wurden immer nur
Modellinszenierungen geschmiedet, und wenn eine Aufführung nicht mindestens
vier Jahre auf dem Spielplan blieb, dann war schon etwas
faul. Das Unmittelbare, Momentane, Spontane von Theaterspiel ist dann natürlich
weg.“ (8.133)
Karge in „Catulls Liebe zu Lesbia“ in Spektakel 2
Damals
begann die langjährige Zusammenarbeit Karges mit Heiner Müller. Auch
Freundschaft. Karge erinnert gern, dass er „mit Heiner Fusel soff“ zu einer
Zeit, "da es viele gab, die noch nicht einmal ein Bier
mit ihm kippen wollten".(8.134) Ergebnis war die Uraufführung
der „Schlacht“ von Heiner Müller 1975 an der Volksbühne – Stück und
Inszenierung wiederum eine Herausforderung, expressive, sarkastische und
groteske Abkehr von betont naturalistischen, linearen Spielweisen.
1978 gingen
Karge/Langhoff zunächst ans Schauspielhaus Hamburg, inszenierten Kleists „Prinz
Friedrich von Homburg“ als Opfer des ewigen preußischen Militarismus und „Fatzer“ von Brecht in der Montage von Heiner Müller.
Ebenfalls 1978 folgte „Der gefesselte Prometheus“ von Aischylos/Müller in Genf.
Danach kamen beide Regisseure ins Engagement zu Klaus Peymann in Bochum. Dort
gaben sie u.a. 1980 die Uraufführung von „Lieber Georg“ von Thomas Brasch und
1983 die von Heiner Müllers „Verkommenes Ufer...“. Die
Uraufführung von Heiner Müllers «Anatomie Titus...» in Bochum war die letzte
gemeinsame Arbeit der beiden Regisseure. «Matthias zog es immer mehr in die
romanische Theaterwelt. Befreundet sind wie nach wie vor.» (8.135)
1986 geht Karge mit Peymann nach Wien ans Burgtheater, ist dort „zuständig für
Brecht“, inszeniert Horváth, bringt die Uraufführungen von Franz Fühmanns „Der
Sturz des Engels“ und Elfriede Jelineks „Totenauberg“.
Inzwischen
hatte sich Manfred Karge auch als Theaterautor durchgesetzt mit vital-deftigen,
phantasievollen Texten, einer Mischung von Volks- und „Kunststück“ (u.a. „Jacke wie Hose“, „Die Eroberung
des Südpols“, „Lieber Niembsch“, „MauerStücke“,
„Killerfische“, „Die bärtige Frau“, „Faust 1911“). Mit Stanley Weldon versuchte er sich als Autor des 1985
uraufgeführten Musicals «Claire».
1993 verließ
Karge das Burgtheater, kehrte zurück nach Berlin und an seine alte
Wirkungsstätte, das Berliner Ensemble. Dort zeigte er 1995 Flagge mit seinem
Brecht-Abend. „Obwohl unter dem Titel „Über die
Herrenmode und andere Katastrophen" auch gut bekannte Gedichte und Songs
geboten werden, scheinen sie allesamt neu, wie ausdrücklich für jetzt und hier
geschrieben. Das liegt an Manfred Karge, der die Auswahl zusammenstellte, Regie
führte und selbst mit auftrat. Das liegt vor allem an Bertolt Brecht, dem
großen Realisten, der einfach recht hat, der Grundsätzliches und Beiläufiges
klug zu sagen weiß, wie auch immer die Zeiten beschaffen sein mögen.
Die Kenner kommen also auf ihre Kosten.
Sie erleben nicht nur den Dichter etwa der Hauspostille und der Augsburger
Sonette, sondern auch den der „Tage der Commune"
und der „Mutter Courage". Und jene Besucher, die von Brecht bislang nur
wissen, daß er nach der Rückkehr aus der Emigration nach
Ostberlin gegangen ist, werden freundlich darüber informiert, wie universell
und mit welch geistiger Vitalität dieser poetische Sachwalter der Ausgebeuteten
über die Menschen und über die Gesellschaft nachzudenken und zu schreiben wußte.
Wobei Manfred Karge
den Abend weder als penibler Chronist noch als ehrfürchtiger Huldiger disponierte, sondern - aus der Fülle des Werkes
schöpfend - als Zeitzeuge. Mit prononciertem Auftakt. „Von der Sintflut"
singt Karge, davon, daß er sich ihr eventuell
verweigert. Und er warnt, singt „Gegen Verführung": Laßt
euch nicht betrügen! Laßt euch nicht vertrösten! Weit
gespannt dann der thematische Bogen. Die Macht des Geldes wird besungen, über
den Wechsel der Zeiten meditiert, das Scheitern sozialer Experimente erkundet,
über die Ohnmacht der Kunst und der Künstler nachgedacht, die Kälte der Städte
beklagt.
Erkenntnisse,
Mahnungen, Erfahrungen, Hoffnungen, Zweifel. Die Szene dafür entwarf der
Regisseur selbst: eine Spielscheibe, noch vor das Portal in den Zuschauerraum
gebaut... Karge entschied auch das Kostüm. Für sich wie für die Spieler wählte
er gutbürgerliche Anzüge. Doch ließ er barfüßig auftreten, die Füße freilich
nicht nackt und bloß, sondern bunt gefärbt. Er selbst in rot, Eva Mattes blau,
Veit Schubert gelb und die jungen Mitspieler grün. Wunderlicher Einfall, gewiß. Aber Karge verfremdet damit die
Auftritte, nimmt ihnen den Aspekt unmittelbarer Agitation, auch das
Didaktische, und betont das Naive, das Spielerische.“ (8.136)
Doch das
Wirken am Theater ist nur eine Seite des Theatermenschen Karge. 1993 kehrte er
nicht nur ans Berliner Ensemble zurück (seit Peymann dort Intendant ist, auch
wieder mit diesem Theatersouverän verbündet), er kam auch zurück an seine alte
Schule. Seit 1993 leitet er das Regie-Institut der Hochschule für
Schauspielkunst "Ernst Busch". Nach dem Motto: «Im Theater erfindet
man andere Welten. Es hat etwas mit Tagträumerei zu tun. Eine bestimmte Welt zu
errichten, dieser Gedanke kann so befreiend sein.» (8.137)
Im Frühjahr
2011 inszenierte Karge am Berline Ensemble eine Hetz-Collage von Werner Hecht, die
der charakterlose ehemalige Leiter des Brecht-Zentrums der DDR unter dem Titel „Der
Lukullus-Skandal“ schrieb und mit der er die schöpferische kulturpolitische Auseinandersetzung
um die Oper „Lukullus“ von Bertolt Brecht und Paul Dessau von 1951 diffamiert.
Anmerkungen:
8.129 ZDF-Theaterkanal, Internet,
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8.130 Ebenda
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8.131 Berliner Morgenpost, 1.März 2003 Zurück zum Text
8.132 ZDF-Theaterkanal, Internet, 2. März 2003 Zurück zum Text
8.133 Theater-Lexikon, Zürich 1983, S. 721 Zurück zum Text
8.134 Berliner Morgenpost, 1.März 2003 Zurück zum Text
8.135 ZDF-Theaterkanal, Internet, 2. März 2003 Zurück zum Text
8.136 Gerhard Ebert,
Herrenmode und andere Katastrophen, Neues Deutschland, 15./16. Oktober
1995 Zurück
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8.137 ZDF-Theaterkanal, Internet, 2. März 2003 Zurück zum Text
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