„Der Kaufmann von Venedig“ von Shakespeare am Deutschen Theater Berlin, Regie Thomas Langhoff

 

 

 

 

Humanistische Aussage eines klassischen Werkes neu entdeckt

 

Shakespeares „Kaufmann von Venedig", eine tragische Komödie mit Paraderollen für Schauspieler, ist unter Max Reinhardt am Deutschen Theater Berlin oft gespielt worden. In den Jahren des Faschismus war das Stück in Deutschland antisemitischem Mißbrauch ausgeliefert. Eine Wiederbegegnung, die uns das humanistische Antlitz des Werkes neu entdecken mußte, hat in Berlin lange auf sich warten lassen. Jetzt hat Thomas Langhoff am Deutschen Theater eine Inszernierung vorgestellt, die die theatralische Opulenz der Ära Reinhardt souverän aufnimmt und mit einer exzellenten Analyse der vom Dichter gestalteten sozialen Widersprüche bereichert.

In der Epoche der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals waren der Kaufmann und der Finanzmann Vertreter neu aufkommender ökonomischer Interessen, die die politischen Kräfteverhältnisse im feudalabsolutistischen Staat störten. Zugleich forderten die wucherischen Finanzpraktiken humanistische und plebejische Kritik heraus.

Shakespeare, der als Autor leidenschaftlich Stellung nahm zu den Problemen seiner Zeit, machte sich zum Sprecher solcher Kritik. Mit seinem Schauspiel, das er um 1596/98 nach alten Quellen schrieb, polemisierte er gegen den Wucher und verteidigte die Menschenwürde. Er führte zwei Rivalen vor, die, obwohl im fernen Italien beheimatet, seinem Londoner Publikum wohlvertraut waren: Antonio, den auf den prosperierenden Welthandel setzenden Kaufmann von Venedig, und Shylock, den durch Geldverleih nach dem puritanischen Motto „Gewinn ist Segen" reich gewordenen Juden.

Den Streit der rivalisierenden Geldleute band der Dichter ein in ein bizarres Geschehen, dessen komisch-heiterer Grundton den historischen Optimismus der Renaissance aufklingen läßt und dessen erbarmungslose tragische Konsequenz auf die Gnadenlosigkeit künftiger Ausbeutungsverhältnisse verweist.

Bassanio, ein Edelmann, durch verschwenderischen Lebenswandel mittellos, hat von der reichen und obendrein schönen Erbin Portia erfahren, die auf Belmont nahe Venedig ein luxuriöses Leben führt. Um bei ihr als Freier akzeptiert zu werden, bittet er den befreundeten Antonio um Geld. Doch der hat just seine gesamte Barschaft in Waren investiert, die, auf Schiffen verladen, reichen Gewinn heimbringen sollen. Selbstbewußt rät er Bassanio, sich auf seinen Namen Geld zu borgen.

Des Dichters dramaturgische Fügung will es, daß dem Bassanio ausgerechnet der Jude über den Weg läuft. Shylock, bisher von den Christen gedemütigt und bespien, glaubt, einen Wandel herbeiführen zu können, wenn er der Bitte nachkommt. Keinen Heller Zins will er für dreitausend Dukaten nehmen, sondern, nur zum Spaß, ein volles Pfund vom Fleische Antonios, wenn der in drei Monaten nicht zahlungskräftig sein sollte. Ein „lustiger Schein", im Hause des Notars ausgestellt, soll das Geschäft besiegeln, mit dem Shylock Antonios Freund zu werden hofft. Das ist sein tragischer Irrtum.

Ebendiesen tragischen Irrtum setzt Thomas Langhoff mit Akribie in Szene, stets in ausgewogener Balance mit den komischen Momenten des Stückes. Ihn unterstützt Pieter Hein, sein Bühnenbildner, der das „geschäftige" Venedig und das „idyllische" Belmont der Portia nicht simpel gegenüberstellt, sondern beide Spielorte durch eine in dunklem Rot gehaltene, das englische Globe-Theater assoziierende, stilisierte Logen-Bühne ineinanderfügt.

In Langhoffs Sicht ist der Konflikt zwischen dem Kaufmann Antonio und dem Wucherer Shylock ein zeitbedingter, sozusagen normaler Konkurrenzkampf zwischen unterschiedlich mächtigen Geldleuten. Im besonderen aber, und dies in äußerst differenzierter theatralischer Enthüllung, ist es die haßerfüllte Attacke Antonios und seiner Freunde, schmarotzender Tagediebe der vornehmen Gesellschaft, gegen den von vornherein als böse verleumdeten einsamen Juden. Unvermutet kommt ihnen das Gesetz zu Hilfe.

Shakespeare, den auch die mit Handel und Wucher aufkommenden Rechtsauffassungen interessierten, läßt diese — sozusagen komisch verfremdet — ausgerechnet von einer Frau vertreten und auslegen. Die der Jurisprudenz kundige, als Mann verkleidete Portia hilft, den Juden grausam zu erpressen und „rechtmäßig" zu berauben.

Wie sehr hatte Shylock gehofft, den Zwist aus der Welt schaffen zu können! Es ist das große Verdienst auch des Darstellers, daß diese Seite der Figur so klar akzentuiert wird. Fred Düren, der den Shylock gibt, schöpft die ganze Dialektik menschlicher Sehnsucht und Erschütterung dieser theaterhistorischen Gestalt aus. Da betritt ein rüstiger, nervig-wendiger, kluger Mann die Bühne, irgendwie von mißtrauischer Unruhe getrieben, nervös mit der gekrümmten Hand am Rock nestelnd. Angesichts des unerwarteten Wunsches nach finanzieller Hilfe überwältigt ihn Zuversicht. Fast übermütig fordert er das Pfund Fleisch. Er ist ohne Arg in diesem Moment, er vertraut, denn er will die Verständigung. Als ihm aber zur bitteren Gewißheit wird, daß die Clique um Bassanio seine Tochter Jessica entführt hat, begräbt er seine Hoffnung. Noch ist sein Frohlocken angesichts der Zahlungsunfähigkeit seines Gegners scheu, geradezu selbstkritisch, dann nimmt er notgedrungen den Kampf auf.

Düren denunziert die Figur nie, gibt keinen auf menschliche Rache Versessenen, sondern einen in der eigenen, sich abgerungenen Hartnäckigkeit gefangenen, zutiefst erniedrigten und doch aufrechten Menschen. Diesem Shylock zittert die Hand, er würde nicht zustoßen.

Langhoff läßt die Gerichtsszenen präzis ausspielen. Die Komödie tritt zurück. Dagmar Manzels ansonsten charmant-energische, bezaubernd selbstironische Portia ist deutlich die Repräsentantin der herrschenden reichen Christen, aber auch das schwache, liebesdurstige junge Weib, das Bassanio, dem Geliebten, und Freund Antonio helfen möchte. Der Kaufmann Dietrich Körners ist von renaissancehafter Riesigkeit an ruhigem Selbstbewußtsein und mannhaftem Stolz. Als er Shylock schließlich mit des Gesetzes Kraft gnadenlos zum Christentum zwingt, geschieht das fast selbstverständlich.

Am Schluß verkriecht sich Jessica (Heidrun Perdelwitz), die ihren Vater verraten hat, ahnungsvoll schlechten Gewissens, während ihr durch Gerichtsbeschluß gegen Shylock unvermutet reich gewordener Verführer Lorenzo (Frank Lienert) sich übermütig tummelt. Antonio aber, inzwischen wieder vermögend, steht herausfordernd in der Mitte der Bühne — mit solcherart freundlichem, letztlich eiskalt handelndem Emporkömmling wird die Welt hinfort zu rechnen haben.

Die Aufführung — ein wenig zu lang — ist von faszinierender spielerischer Geschlossenheit; gesprochen indessen wird unterschiedlich gut. Ulrich Mühe prägt sich ein als keck-vorlauter Narr Gobbo, Michael Gwisdek als Prinz von Marocco, Klaus Piontek als Prinz von Aragon, Peter Reusse als Solanio. Simone von Zglinicki gefällt als drollig-lüsterne Kammerfrau Nerissa. Der Premierenbeifall war herzlich und verdient.

 

 

Neues Deutschland, 23./24. März 1985