„Seine Kinder“ von Rainer Kerndl am Berliner Maxim Gorki Theater, Regie Horst Schönemann

 

 

 

Talent missachtet Regeln

 

Wie viele der seit Jahrhunderten erprobten dramaturgischen Regeln kann man verwerfen? Führt die Entwicklung zum regellosen Theater? Fast scheint es, als sei Kerndls Versuch geschrieben und gespielt worden, um Antwort auf diese Fragen zu geben.

Die Szenenfolge krankt an der Unentschiedenheit des Autors gegenüber dem Stoff und an dem Mißtrauen gegenüber den Mitteln, mit denen sich das Material zu einem Theaterstück hätte formen lassen. Hier hat ein Talent eine großartige künstlerische Idee verschenkt, weil es nahezu alle gültigen dramaturgischen Regeln in den Wind schlug, ohne etwas Neues an deren Stelle setzen zu können.

Was bietet der Autor? Ansätze dramatischer Aktion in der Gaststube des „Roten Hirsch" und im Gemeindesaal von Hohengereuth, in allen übrigen Bildern vorwiegend Gerede über gegenwärtige und vergangene Ereignisse und in Zwischenspielen Geschehnisse, die zur Erläuterung der Handlung nicht notwendig sind. Karl Sorge, ein erfahrener, im Kampf ergrauter Arbeiterfunktionär, Opfer des Faschismus, kehrt als Landrat in seinen Heimatkreis nach Brachfeld zurück, in dem sein Pflegesohn Rolf für das Bauwesen verantwortlich ist. Sorge kommt gerade in den Tagen, in denen es infolge der Arbeitsweise des Sohnes zu ernsten Komplikationen gekommen ist. Der Bau eines für die gesamte Republik notwendigen Prüffeldes ist vernachlässigt worden, weil Rolf die Baukapazität im Kreis zersplittert hat. Sorge kommt obendrein gerade in den Tagen, in denen sein leiblicher Sohn Alfred, den es nach Westdeutschland verschlagen hat, in Brachfeld Station macht, um die Pflegetochter Sorges, Judith, die mit Rolf zusammenlebt, kennen zu lernen.

Nun wissen wir spätestens seit Imre Dobozys Schauspiel „Fortsetzung morgen", daß solche vielfältige Kreuzung von Zufällen, sofern sie mit dem Hauptkonflikt zusammenhängt, bei meisterhafter Behandlung des Materials gestattet, historische Notwendigkeiten mit besonderer Intensität deutlich zu machen. Die erste Szene, das Eintreffen des Vater Sorge bei seinen Kindern, sein tastendes Fragen nach dem Prüffeld, ist dann auch durchaus das, was man eine echte Exposition nennen kann. Hier wird bereits sichtbar, daß es sich offensichtlich weniger um eine psychologische Problematik handelt, die gesellschaftliche Konflikte widerspiegelt, als vielmehr um ein gesellschaftliches Anliegen, das an einem speziellen Beispiel unter anderem auch mit psychologischen Mitteln abgehandelt werden soll. Eine Formung nach Regeln des epischen Theaters entspräche also wahrscheinlich am ehesten der Qualität dieses neuen, nur in unserer Gesellschaft möglichen Konfliktes.

Pflegesohn Rolf hat, um die sozialistische Demokratie so wie er sie versteht zu ver­wirklichen, im Kreis und vor allem in dem Dorf Hohengereuth so gut wie alle von der Bevölkerung gewünschten Bauvorhaben berücksichtigt. Dabei hat er Wichtiges von weniger Wichtigem nicht mehr unterschieden. Er hat zum Beispiel nicht mehr überblickt, wie notwendig es für die gesamte Republik, und damit auch für seinen Kreis ist, das Prüffeld zu bauen. Vater Sorge soll die Sache in Ordnung bringen, nicht als deus ex machina, sondern als Mensch, der Menschen überzeugt. Wenn das kein wahrhaft neuer Konflikt ist! Aber Kerndl hat dessen objektive dramatische Potenz gar nicht gesehen.

Dem Autor ging es, wie er schreibt, darum, die menschliche Größe eines Kommunisten zu zeigen; und zwar an Hand der Figur des Arbeiterfunktionärs Karl Sorge. Das ist ein edles Vorhaben, aber es kann auf dem Theater nur dann Gestalt annehmen, wenn der Autor die nun einmal nicht zu umgehenden dramatischen Gesetze beachtet. Wenn sie absolut überflüssig wären, würden sich wohl kaum — und dies seit Jahrhunderten — immer wieder Theoretiker bemühen, sie in einem System dramaturgischer Regeln zu fixieren. Kerndl hat die Lessingsche Lösung vertan, die darin bestanden hätte, Vater Sorge im entscheidenden Hauptkonflikt zu zeigen. Nach der Exposition hätten die Aktionen der beiden Seiten Zug um Zug gegeneinander gesetzt werden müssen, wobei es vor allem auf die psychologische Vertiefung der Charaktere und deren Beziehungen angekommen wäre. Die Widerstände Rolfs und eines Teiles der Bevölkerung hätten so modifiziert werden müssen, daß Sorge wahrhaft hätte kämpfen müssen, um nach hartem Für und Wider um das Prüffeld schließlich siegreich zu sein. Ein solcher Kampf findet nicht statt. Und deshalb sind selbst die Szenen in der Gaststube und im Gemeindesaal, die im Kern einer Lessingschen Behandlung des Konfliktes entsprechen, letztlich nur Abglanz der eigentlichen Möglichkeiten.

Kerndl hat auch die andere, die Brechtsche Lösung vertan, die darin bestanden hätte, Sorge in solche konkreten Situationen zu stellen, in denen er sich zu einem jener Kommunisten entwickelt, deren Leben unausgesprochenes Pathos ist. Der Einsatz für das Prüffeld gegen den Sohn wäre gleichsam Krönung dieses kampf- und opferreichen Lebens gewesen. Die poetisch dichten, herben Zwischenspiele aus den Jahren 1934 bis 1947, die in ihrer einfachen, sachlichen Schönheit an Brecht erinnern und jetzt leider überhaupt keine Funktion haben, obwohl sie für sich genommen sehr deutlich das Talent des Autors spüren lassen, diese Zwischenspiele wären mit wenigen Ergänzungen bereits die Exposition für eine solche Lösung gewesen. Herausgekommen wäre ein Stück, das man etwa mit Baierls „Frau Flinz" oder Strittmatters „Holländerbraut" hätte vergleichen können.

Jetzt gibt Rainer Kerndl ein Konglomerat von Ereignissen. Der dünne Faden der Fabel wird immer wieder abgerissen, sowohl durch die Zwischenspiele als auch durch die Liebesgeschichte zwischen Judith und Alfred. Die Einblendungen, die den Zuschauer stets unvermittelt mit ganz neuen Situationen konfrontieren, müssen zwangsläufig kurz exponiert werden, und wenn Handlung einsetzt, ist das Zwischenspiel auch schon zu Ende. Der Faden der Fabel muß dann jedesmal neu aufgenommen werden. Doch noch ehe man die Zusammenhänge wieder überschaut, treten Alfred und Judith, mit Verlaub gesagt, als Sprachröhren des Zeitgeistes auf, unterbrechen die Handlung abermals und meditieren laut über Gut und Böse unserer Gesellschaft. Dies mehrmals. Und obwohl sie sich eigentlich überhaupt nicht verstehen — ihre Gestalten verkörpern zwei ideologische Welten — verlieben sie sich ineinander. Das begreife, wer kann. Natürlich könnten die beiden zusammenfinden, aber dann müßte dies entsprechend motiviert werden. Und das ergäbe wieder ein neues, ein wahrscheinlich sogar sehr reizvolles Stück.

Unser Urteil über Kerndls Versuch ist nicht deswegen so offen und prinzipiell, weil wir die „hauptstädtische Elle" anlegen und aus der Sicht solcher Stücke wie „Fortsetzung morgen" oder „Frau Flinz" urteilen. Vielmehr meinen wir, daß hier eine sehr eigenwillige Begabung von einem Irrweg zurückgeholt werden muß. Das Problem ist: Wenn man so weit in Neuland vorstößt wie Kerndl mit diesem Vater-Sohn-Gesellschaft-Konflikt, wenn man ganz und gar neue, noch nie künstlerisch gestaltete menschliche Beziehungen, Aktionen, Gefühle und Leidenschaften auf das Theater bringen will, dann sollte und muß man sich zunächst an den bewährten Regeln festhalten, die andere ja nicht zum Spaße und durchaus nicht zufällig fixiert haben. Sturm und Drang heißt doch nicht Regellosigkeit, weder gestern noch heute.

Die Inszenierung Horst Schönemanns ist der praktische Beweis für unsere These, daß die Kunst des Regisseurs und der Schauspieler auch unfertige dramatische Versuche zu bleibenden Eindrücken steigern kann. Das hat es zu allen Zeiten gegeben, das erweist sich auch hier. Horst Schönemann und Dieter Berge, die die Ausstattung besorgten, sahen sich gezwungen, die die Technik überfordernden Verwandlungen der Bühne, die Kerndl vorschrieb, auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.

Wir sehen eine Aufführung, die durch eine sehr plastische und differenzierte Zeichnung der Charaktere gefällt. Das ist allerdings nicht nur Verdienst der Regie. Hier liegt unverkennbar eine Stärke des Autors. So abstrakt ihm die Gespräche Judith — Alfred geraten sind, so lebendig und klar sind die Dialoge der Figuren, die in konkreten Auseinandersetzungen stehen. Das ist vor allem bei den Volksszenen im „Roten Hirsch" und im Gemeindesaal der Fall, aber auch in den Zwischenspielen. Das Ensemble setzt sich offensichtlich sehr für das Werk Kerndls ein, es zeigt eine geschlossene, harmonische Leistung.

 

 

SONNTAG, Nr. 45/1963