„Der Kirschgarten“ von Anton
Tschechow am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, Regie Martin Meltke
Menschen zwischen Hoffnung und Verunsicherung
Das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin eröffnete die Spielzeit 1990/91 mit Anton Tschechows Komödie „Der Kirschgarten" in der Übersetzung und Bearbeitung von Thomas Brasch, Die moderne Fassung, obwohl nicht aus aktuellem Anlaß entstanden, bot direktere Bezüge in die unmittelbare Gegenwart als das wohl bei anderen Übersetzungen der Fall gewesen wäre. Effekthaschende Aktualität suchte der Regisseur Martin Meltke freilich nicht.
Immerhin geht es um einen hierzulande
zur Zeit alltäglichen Vorgang: Besitzwechsel. Volkseigentum in Größenordnungen wird
still und heimlich in private Hände verscherbelt. Niemanden scheint das
sonderlich aufzuregen. Und die neuen Besitzer halten sich tunlichst zurück. Für
die Öffentlichkeit gilt die Losung: Im Grunde wechseln nur Bruchbuden und
Schulden den Eigentümer.
Bei Tschechow im fernen Rußland vor hundert
Jahren war das irgendwie ähnlich. Auch der Ranjewskaja Gut galt als heruntergewirtschaftet
(früher tanzten Generale, jetzt Postbeamte). Und der das Anwesen samt Kirschgarten
einkaufende Kaufmann Lopachin zeigt sein Frohlocken nicht jedem. Daran das
Komische zu entdecken fällt im Moment schwer.
Wenn die in die Heimat zurückgekehrte
Gutsbesitzerin mit ihren Gedanken noch immer bei ihrem sie ausnehmenden Pariser
Liebhaber ist und gar nicht recht begreift, was um sie herum vorgeht, dann hat
das — im ästhetischen Sinne — schon mit Tragikomik zu tun. Doch hier und heute?
Assoziationen zur Lebenssituation eines über vierzig Jahre zur
Schicksalsgemeinschaft gezwungenen Volkes, das zu gewissen Teilen ebenfalls
nicht begreift, was derzeit historisch eigentlich läuft, sind zwar möglich,
aber Angelegenheit jedes einzelnen Zuschauers.
Das Schweriner Publikum hatte zunächst ganz
andere Probleme. Es verstand nämlich kaum, was auf der Bühne gesprochen wurde.
Die Regie hatte mit locker-natürlichem leisem Sprechen herstellen wollen, was
das Bühnenbild nicht bot, und zwar konkrete szenische Atmosphäre. Diese hatte
Ausstatterin Änn Schwerdtle jugendlich-keck dem Einfall geopfert, das gesamte
Theatergebäude gleichsam als das Gut auszugeben, das veräußert wird.
Vorzüge. Nachteile. Die Seitenlogen
dienen als Zimmer und Korridor. Dazwischen wird großräumig auf der Abdeckung
des Orchestergrabens gespielt. Das Saallicht bleibt eingeschaltet. Die Ausleuchtung
der Figuren wird vernachlässigt. Jedenfalls fand die Inszenierung letztlich
kein rechtes Zentrum. Die Kommunikation auf der Bühne zerriß, selbst die hin
zum Publikum. Nach allgemeinem Protest der Zuschauer an passender Stelle im
zweiten Akt (Kaufmann Lopachin: „Ich höre rein gar nichts!" Zuschauer: „Wir
auch nicht!" Beifall) bekam die Aufführung auf einmal eine Direktheit, die
ihr insgesamt zu wünschen wäre.
Martin Meltke hat an sich gut an den
Charakteren gearbeitet. Er erzeugt eine gewisse Spielspannung und Neugier auf
die Vorgänge, wenngleich er in der Wahl der komischen Mittel zwischen Parce und
Schwank nicht recht zu unterscheiden weiß. Seine Ranjewskaja ist bei Ute
Kämpfer leider undifferenziert, eine verhärmte, verbrauchte Frau, deren
Sehnsucht nach dem neuen Leben in der Fremde offenbare Selbsttäuschung ist. Ihr
weltfremd spintisierender Bruder Gajew (Klaus Bieligk), der einen Posten bei
der Bank bekommen hat, wird da schwerlich Karriere machen können. Frisch und
munter die Töchter: Anja (Susann Thiede) als quirlige Halbwüchsige, Warja
(Simone Cohn-Vossen) als kesse Verschmähte. Respektabel Heinrich Schmidts Komik
als uralter Diener Firs.
Das Rede-Duell zwischen Kaufmann
Lopachin (Thomas Zieler), dem Bauernsohn, und Trofimow (Oliver Bäßler), dem an
Fortschritt glaubenden, ewig studierenden Apothekersohn, bringt ins Bild, wie
beide ihre Lebensauffassung streitbar nicht verhehlen, sich andererseits aber
gewiß sind, auf lange Zeit miteinander auskommen zu müssen. Das ist sinnfällig.
Wie auch das Ende, das als Aufbruch und Verunsicherung gespielt wird, als
Lebensrisiko zwischen Hoffnung und Angst.
Neues
Deutschland, 29. August 1990