„Die Zeche zahlt Koritke“ von Friedrich Wolf
am Friedrich-Wolf-Theater Neustrelitz, Regie Christian Bleyhoeffer
Entdeckung bei Friedrich Wolf
Der Vorwurf kann unseren Theatern nicht
erspart werden: Sie ließen in unerklärlicher Zurückhaltung über dreißig Jahre
ins Land gehen, bevor sie dieses expressive, publikumswirksame Werk Friedrich
Wolfs zur DDR-Erstaufführung brachten. Dem Friedrich-Wolf-Theater Neustrelitz
ist es zu danken, die wahrhaft erkleckliche Schuld endlich abgetragen zu haben.
Das 1927 in Stuttgart uraufgeführte Stück steht noch
deutlich in der Nachfolge des Expressionismus, doch ebenso deutlich zeichnen
sich bereits sozial realistische Positionen ab. Wolfs Gestaltung des
Proletariers Koritke ist politisches wie poetisches Bekenntnis, ist Erkenntnis
der gesellschaftlichen Verhältnisse im Deutschland der Weimarer Republik,
umgeschmolzen in eine den Sehnsüchten und Drangsalen des Volkes nachempfundene
dramatische Geschichte: eine Tragödie, nicht optimistisch, aber die
Perspektive herausfordernd.
Koritke, Nachtkellner, Rausschmeißer, Portier,
früher Ringkämpfer, glaubt an die tänzerische Begabung seiner Tochter Mia, die
in Wahrheit nicht seine, sondern Lomms Tochter ist, eines Fabrikdirektors, in
dessen Kellerwohnung Koritke als Portier kampieren darf. Koritke hat es nie
geahnt: Seine erste Frau, die hübsche Tänzerin Cilly, hatte sich mit Lomm
eingelassen. Nun will Lomm verhindern, daß auch Mia als Tänzerin auftritt.
Koritkes zweite Frau erfährt, daß Lomm der Vater Mias ist. Dieser Vater hätte
das Geld, Mias Ausbildung zu finanzieren. Sie stiftet den Verehrer Mias, den
Schlosser Jolle, an, bei Lomm einzubrechen. Doch noch bevor die gestohlenen
Platinbarren verschrotet sind, hat Mia künstlerischen Erfolg, wenn auch erkauft
durch ihre Hingabe an einen ungeliebten Mann, den Herrn von Spee, einen
Filmregisseur und Manager. Auf der Höhe des Erfolges, als Vater und Tochter,
die inzwischen gemeinsam auftreten, ein Vertrag nach »Dollarien« winkt, greift
die Polizei ein, von Lomm verständigt. Koritke fällt unter ihren Kugeln.
Das hört sich an wie eine Kriminalstory, hat
auch Elemente davon, ist aber in der Gestaltung des Schicksals des Koritke von
tief lotender Menschlichkeit und sozialer Anklage. Koritke kämpft verzweifelt
um das Glück seiner Tochter, steigt wieder in den Ring, läßt sich als Catch-as-catch-can-Kämpfer
zusammenschlagen. Fast wird er zum Mörder an Lomm, nachdem er die Wahrheit erfahren
hat. Die Begebenheiten sind vom Autor im aristotelischen Sinne verknüpft, folgerichtig,
wahrscheinlich, in sich stimmig. Kommt man mit dem Urteil dazwischen, ist
freilich die Konstruktion zum Behufe des Austragens des tragischen Konfliktes
unübersehbar.
Regisseur Christian Bleyhoeffer vertraute
nicht der dramatischen Kraft des Stücks, sondern funktionierte es hin zu einer
Abfolge im Sinne epischen Theaters. Bühnenumbauten und damit Pausen sind
unumgänglich, gewiß. Aber anstatt die dramatische Geste sozusagen »stehen zu lassen«,
d.h. den Zuschauer nicht aus der emotionalen Wucht des Geschehens zu
entlassen, läßt Bleyhoeffer stückfremde Texte über Lautsprecher einsprechen,
läßt er Songs einspielen, offenbar, um Zeitkolorit zu liefern. In Wahrheit seziert
er das Stück, drängt er ihm eine Mentalität auf, die ihm fremd ist. Hier
schwingt ein Vorurteil gegenüber aristotelischer Dramatik nach, das verhinderte,
die Tragödie in ihrer ganzen theatralischen Konsequenz, in ihrer beklemmenden
Folgerichtigkeit und Expressivität in Gang zu bringen.
Ausgezeichnet die Besetzung des Koritke
mit Erich Koster. Der stämmige, breitschultrige und vitale Darsteller trifft
den Koritke genau, diesen in seine Tochter versessenen, redlichen, herzensguten
und bärenstarken Berliner Proletarier. Koritke lacht glücklich und herzhaft,
wenn die mit v. Spee (Matthias Meyer) lebende Mia für Mutter einen Schal
auspackt, er lacht irre, wenn der tot geglaubte Lomm aus dem Schacht auftaucht,
in den er gestürzt ist. Dieser Koritke spürt und registriert die soziale
Ungerechtigkeit der kapitalistischen Gesellschaft eher instinktiv, denn
bewußt. Er bäumt sich kraftvoll dagegen auf, aber sein isoliert, nicht
gemeinsam mit Klassengenossen geführter Kampf muß folgerichtig enden. Koster gibt
dem Koritke die naive Treuherzigkeit eines großen Kindes mit unbefangenem
Glauben an das Glück auch für die Kleinen in der Welt der Ausbeutung.
Die Tochter Mia Elisabeth Zwiegs ist der
»Spatz«, die »Ratte«, das Kellerkind, das empor will zum Licht und zunehmend energisch
dafür eintritt. Das Mobilisieren der Energie teilt sich mit, die schließlich
stolze Gewißheit des Talents, auch das weibisch schlaue Zurechtfinden in der
morbiden Welt des bürgerlichen Show-Geschäftes. Dieser kleine, kluge Spatz ist
viel zu natürlich und zu gesund, als daß er für die laszive Anschmiegsamkeit
der Industriellen Lis Benz (Barbara Ansorg) auch nur eine Empfindung hätte. An
der Tänzerin Mia ist offenbar hart gearbeitet worden. Die intensive choreographische
Zuarbeit von Hilde Buchwald-Wegeleben zeichnet sich ab, auch in ihren fabeldienlichen
Absichten. Elisabeth Zwieg absolviert die tänzerischen Partien (Musik Jens-Uwe
Günther) mit bemerkenswertem körperlichen Einsatz. Diese Mia realisiert ihren
Berufswunsch mit Kraft und Leidenschaft, weniger mit temperamentvoll-beseelter
Lust und ursprünglicher tänzerischer Anmut.
Den Fabrikdirektor Lomm gibt Dieter Schojan
um einige Nuancen zu klein im Format, in der Haltung eines in sich gekehrten,
verkniffen-spröden Menschen, eher das verkörperte schlechte Gewissen als ein
Mann, der seine Macht zu gebrauchen versteht. Die Sorge um die Entdeckung
seiner Vaterschaft zeigt er deutlich, auch das aufkommende hektische Bemühen
um den ergaunerten Besitz, wenig nachvollziehbar aber werden seine Motive, Mia
das Tanzen zu verwehren. Die Mutter Koritkin spielt Ingeburg Göthel-Röder als
eine Frau, die Mia wie ihre eigene Tochter liebt und der die Einfälle zu
kriminellen Anstiftungen aus sozialer Verstocktheit kommen, nicht aus ihrer
sozialen Herkunft, die sie deutlich zu akzentuieren versteht. Ein beredtes
Detail: Die Koritkin öffnet vorsichtig-andächtig einen sorgfältig aufgehobenen
Brief Mias, um ihn Jolle (Klaus Kriese) zu zeigen. Jolle riecht erst einmal
daran, und nun schnuppert auch die Koritkin erstaunt den Duft der anderen,
feinen Welt da »oben«. Den Volontär Miltiz gibt Jürgen Heinrich als eine
ehrliche Haut, als einen, der seine kleine Privatrebellion gegen den Lomm kläglich
verliert.
Regisseur Christian Bleyhoeffer war
auf reale Vorgänge bedacht. Er hat die expressionistischen Züge des Stücks
nicht zurückgenommen, aber auch nicht betont. Im Bühnenbild Horst Mamerows, der
die Kellerwohnung der Koritkes, das »unten«, konkret und im Detail ausführt,
das »oben« der Lomm und Benz aber mit allgemeinen Spielräumen andeutet, bewegen
sich die Figuren des Autors ohne gewollt-expressive Überzeichnungen. Das dient
der Rezeption des Stücks durch heutiges Publikum, was der reiche Premierenbeifall
in Neustrelitz belegte.
Theater der Zeit, 9/1976