„Fernando Krapp“ von Tankred Dorst am Berliner Ensemble, Regie Peter
Palitzsch
Ein Seelen-Schinken ungewürzt serviert
Im Theater am Schiffbauerdamm (Berliner Ensemble) offeriert Peter Palitzsch eine Koproduktion mit dem Schauspiel Bonn, die bereits im Januar in Bad Godesberg Premiere hatte und besser in der Provinz hätte bleiben sollen. Zumal Tankred Dorsts Schaustück „Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben" just vor einem Jahr im Berliner Schloßpark Theater zu besichtigen gewesen ist.
Welch hundsmiserabler „Versuch über die Wahrheit". Wie mag Dorst
nur darauf gekommen sein, seinen Courths-Mahler-Verschnitt solch Untertitel zu
geben? Anläßlich der Steglitzer Aufführung bemühte ich mich noch, dem Seelen-Schinken
ironisch beizukommen (ND vom 3. Mai 1993). „Der Herr Krapp", schrieb ich,
„ist eben ein ganzer Mann, erfolgreich im Geschäft und im Beerben seiner
ersten Frau. Warum soll er sich nun nicht das schöne Weib leisten, das er sich
in den Kopf gesetzt hat, das er bezahlen kann und das er mit rauher
Männlichkeit liebt? Denn was heißt schon Liebe? Heißt sie nicht eigentlich
Besitz und fortwährendes lauerndes Mißtrauen? Hierzulande hatten wir uns daran
gewöhnt, daß Mann wie Weib Liebe für Liebe geben. Jetzt muß man sich das ‚Menschliche'
an der Freiheit im knebelnden Umgang mit der weiblichen Seele erst einmal
wieder bewußt machen."
Aber, hol's der Teufel, Ironie gegenüber lausigem Konformismus
deutscher Dramatik ist zu wenig. Die Flucht zurück zum Ufa-Kitsch gehört attackiert,
auch wenn es um eine Anleihe beim Spanier Miguel de Unamuno geht, um eine Dramatisierung
der Erzählung „Nichts Geringeres als ein ganzer Mann".
Der „ganze Mann" sperrt sein Weib ins Irrenhaus
seiner Kliniken. Die stolze Julia hatte versucht, die Liebe ihres Gatten auf
die Probe zu stellen. Sie betrog ihn mit dem Hausfreund, einem Grafen. Was sie nicht
wußte, war, daß Krapp den bankrotten Grafen gekauft hatte. Nun also wird sie im
Irrenhaus von ihrem „Wahn" geheilt. Denn Krapp liebt Julia! Wer also
schon Sorge bekam, dieser Herr sei eine ganz böse Nummer, kann sich trösten. Als
Julia gestorben ist, ausgezehrt vom schönen Leben an Krapps rauher Seite,
folgt er ihr in den Tod, sein Blut nicht schonend. Auch und offenbar gerade die
Superreichen haben eben ihre wunderbare Moral. Was nun endlich, rund fünf Jahre
nach der Wende, auch am Schiffbauerdamm verkündet wird. In einer identifikatorischen,
den Herrschaften kein einziges Leid zufügenden Inszenierung.
Peter Palitzsch, zu meiner Überraschung, weiß offenbar nicht
mehr, was verfremdendes Schauspielen heißt. Er macht (in primitiver Kulisse; Bühnenbild
Karl Kneidl) leicht zeremoniell empfindsames Einfühlungs-Theater. Krapp, der
Kapitalist, zwar mit Frack und Zylinder, aber eben kein zu kritisierender Typ,
sondern ein des Mitfühlens werter Individualist. Volker Spengler liefert ihn -
diesmal mimisch zurückhaltend - mit saturierter Nonchalance. Die Julia der Tanja
von Oertzen ist so blaß wie nett. Der Graf des Karsten Gaul ist nur blaß. Und
die Irrenärzte, Renate Becker und Walter Hess, sind nicht einmal blaß.
Übrigens: Die Plakatwand im Wandelgang des Theaters im Schiffbauerdamm,
mit der die weltberühmten Aufführungen und die historischen Gastspiele des
Berliner Ensembles dokumentiert wurden, ist abgewickelt...
Neues
Deutschland, 26. April 1994