„Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht am Theater Tarrain Vague Paris, Regie Christophe Rauck

 

 

 

 

Wem Land warum gehört

 

Überraschend durchaus im BE der jubelnde Beifall eines überwiegend jugendlichen Publikums. Galt er sowohl den Gästen zum »Brechtsommer 1997«, der jungen Truppe aus Paris, dem Theater »Terrain Vague« (»Unbestimmtes Gelände«), als auch dem Stück, Bertolt Brechts »Kreidekreis«? Genau läßt sich das nicht beantworten. Mir schien, daß die talentierte, mit Feuereifer spielende Truppe für den guten B.B. eine Lanze gebrochen hat. Was nicht wenig ist in einer Zeit, in der es Mode ist, den Dichter für passe zu erklären.

Christophe Rauck, den jungen Regisseur, einige Jahre Schauspieler bei Ariane Mnouchkine, reizte die Aktualität des Stückes. Während ich geneigt bin, darauf zu verweisen, daß der Streit der Kolchos-Bauern um ein Tal heutzutage nur ins Gedächtnis ruft, daß kollektives Leben und Wirtschaften nicht einmal mehr eine soziale Utopie ist, sieht Rauck die Sache aus französischer Sicht merklich anders. Ihn bewegt, wie Bauern in einem von Nazitanks zerstörten kaukasischen Dorf ein humanistisches altes Stück aufführen, das nachdenken hilft, wem Land warum gehört. Und nicht minder bewegt ihn die Machtübernahme in einem von kriegerischen Unruhen erfaßten Land, die Flucht Grusches vor den Soldaten, die Konflikte einer gespaltenen Gesellschaft. Er meint, das sei höchst aktuell. Und er hat recht damit.

Zu seiner Sicht vermochte er offenbar auch seine Spieler zu begeistern. Noch nie sah ich den »Streit um das Tal« (auf dem Theater meist eine umständliche, langweilig anmutende Angelegenheit) so fröhlich temperamentvoll vorgestellt. Gestisch knapp, sprecherisch virtuos wird der Fall abgehandelt. Sozial Gleichgestellte erörtern heftig und durchaus mit Getöse das Problem und finden eine einvernehmliche Lösung. Ihr anschließendes uraltes Spiel aus dem Chinesischen - erzählend auch: die Kinder den Mütterlichen - bleibt durchweg ein Spaß von Amateuren. Und man verzeiht, daß sich ihre simplen darstellerischen Mittel alsbald erschöpfen.

Agiert wird auf einem Podest, das wie bei Shakespeares Bühne in den Zuschauerraum ragt (zuständig: Pascal Foulonneau). Auf diesem Podest ist eine abgewandelte Brecht-Gardine ein Super-Requisit. Sie kann nämlich nach unten gedrückt werden, so daß die Köpfe der Spieler sichtbar sind und der Eindruck entsteht, als operierten quicklebendige Puppen auf einer Spielleiste. Dann wieder kann sie fallengelassen werden, so daß die Spieler nach vorn zur Rampe treten können. Kostümiert sind sie mummenschanzig nach einer georgischen Phantasie-Folklore. Weiße Stoffmasken mit kleinen Öffnungen für Augen und Mund verdecken ihre Gesichter.

Brechts dialektisches episches Theater verschmilzt leger und lustig mit der Ursprünglichkeit der clownesken alten Commedie dell'arte zu vitalem, grotesk-komischem Jahrmarkt-Theater. Zumal die französische Sprache glänzend geeignet ist, die Texte herauszusprudeln, stets begleitet mit temperamentvoller, expressiver Gestikulation. Das wirkt. Das reißt mit. Das ist naives Volkstheater und gefällt.

Die Grusche der Pascale Oudet, etwas pummelig, flitzt durchs widrige Gebirge, daß es nur so eine Art hat. Emsig umsorgt sie das Baby, furios verteidigt sie es. Der Soldat Simon Chachava des Rainer Sievert paddelt pantomimisch possierlich auf dem Bach, erfährt vom fremden Kind und kratzt die Kurve. Der Azdak der Juliette Plumecocq-Mech ist ein windiger Herr mit Schlips, nicht so versoffen, wie gern gezeigt, aber von intelligenter Nachdenklichkeit. Zusammengehalten werden die Szenen durch einen zunächst sehr bedächtigen, dann agilen Erzähler, eine Puppe jeweils, gesprochen und geführt von Rainer Sievert. Das berühmte Gezerre um das Kind ist verfremdet hinter die Gardine verlegt.

Das Stück, gekürzt zwar, aber in seiner poetischen Substanz nicht beschädigt, erweist sich als zauberhaft virulent. Neue schöne Bestätigung findet die alte Mär: Daß da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind.

 

 

 

Neues Deutschland, 14. Juli 1997