„Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht am Théâtre de Complicite London, Regie Simon McBurney

 

 

 

Urwüchsige Volksheldin

 

Nochmals Brechts Parabel »Der kaukasische Kreidekreis« im Rahmen des »Brechtsommers 1997«. Neulich aus Paris das Theater Terrain Vague im BE, jetzt in der Arena in Berlin-Treptow das Londoner Théâtre de Complicite, eine 1983 von Annabel Arden, Simon McBurney und Marcello Magni gegründete Theatertruppe. Auch bei den Engländern überzeugt, wie vital und unbekümmert sie sich dem Werk näherten, pfeifend auf ideologische Scheuklappen, die ihnen deutsche Feuilletonisten gern aufsetzen möchten, denen der kommunistische Dichter nach wie vor schwer im Magen liegt. Eine Dame beispielsweise weiß, daß das Stück klapprig geworden sei »wie ein rostiger Trabant«, ein Herr reibt sich am »ideologischen Kitsch in Reinkultur« des Vorspiels und findet das Stück überhaupt unrealistisch.

Was mir an der Londoner Inszenierung von Simon McBurney, der auch den Azdak spielt, imponierte, ist ihre außerordentliche Unmittelbarkeit, ihr souveräner komödiantischer Umgang mit dem, was in dem in den USA entstandenen Stück vorgeht, geschrieben 1944/45 auch als Hommage an die siegende Sowjetunion. Gewiß kann ich mir subtilere Schauspielkunst vorstellen. Nicht nur, weil ich die deutsche Erstaufführung im BE 1954 unter Brechts Regie mit Helene Weigel (Gouverneursfrau), Angelika Hurwicz (Grusche) und Ernst Busch (Azdak) noch habe sehen können. Auch weil ich weiß, daß Vorgänge situativ konkreter gespielt werden können. Doch hier war eine engagierte Truppe am Werk, die weniger auf artifizielle Feinheiten setzte, dafür mehr auf das soziale Panorama der Geschichte. »Kinderlosigkeit« in widrigen Zeiten bewegte - daß eine mächtige Herrscherin materiellen Besitz höher schätzt als das Leben ihres eigenen Kindes, andererseits eine Magd für ein fremdes Kind ihr Leben einsetzt und solch Verhalten ein Richter aus dem Volke nachdrücklich gutheißt, indem er der Magd mit geschicktem Test und sodann mit Brief und Siegel bescheinigt, daß sie die Mutter Michels ist.

Zum Glück ist dies alles kein Fall für bundesdeutsche Juristen. Die würden höchstwahrscheinlich gehörig aufräumen mit »Azdak, Grusche und Konsorten«. Zum Glück obendrein haben die Engländer - wie gesagt - ideologische Scheuklappen nicht auf. So ist denn also ein furioses Spiel zu verfolgen, eingerichtet in einer zirzensischen Arena unter großem Zeltdach. Jeffery Kissoon als bombastischer Sänger eröffnet mit pathetischer Stimme und ausladender Geste, keinen Zweifel lassend, daß hier ein großer Gegenstand behandelt werden wird. Sachlich der Sachverständige, elementar die Kolchosbauern und -bäuerinnen, agierend fast mit tragischem Gestus, als spiele in ihren Herzen nicht nur der aufgezwungene faschistische Krieg mit, sondern auch der schließliche Untergang ihres revolutionären historischen Versuchs.

Das Leben hat seinen unerbittlichen Gang. Fließend ist die Überleitung zum Grusche-Spiel. Das Heroische verliert sich, Heiterkeit und Komik dominieren; Spannung wird aufgebaut, indem Szenen ineinander greifen. Die Gouverneursfrau (Helene Patarot) mit ihrem Anhang in der Kirche, dazwischen montiert die Begegnung Grusches mit Simon (Robert Patterson). Sofort nimmt die drahtige Herbheit Grusches gefangen. Die kleine, kräftige Juliet Stevenson stellt nicht »die Mütterliche« aus, sondern ein energisches, zupackendes Weib, eine urwüchsige Heldin aus dem Volke. Wobei Regisseur Simon McBurney zeigt, in welche Zwänge diese Frau gerät. Als sie vor der Frage steht, das hochherrschaftliche Kind an sich zu nehmen, um es damit vielleicht zu retten, wird das zu schwerer Entscheidung, denn sie sieht sich, vor Angst bebend, unter dem Rad, an dem soeben der Gouverneur (Clive Mendus) von den Panzerreitern erhängt wurde. Als sie für das hungernde Baby um Milch bettelt und abgewiesen wird, gerät sie unter Druck, weil das Kind (als eine Puppe von einem Spieler geführt) mächtig schreit. Wenn sie sich des Zugriffs der Soldaten erwehrt, holt sie mit einer Holzstange gewaltig zum Schlage aus, welche Aktion in Zeitlupe und pantomimisch groß ausgestellt wird. Ihre Flucht im Gebirge erfolgt balancierend über von Spielern gehaltene Holzstangen, die zur Seite genommen werden, wenn die Verfolger kommen. So ergeben sich mit einfachsten Mitteln verblüffend beredte Wirkungen.

Den Azdak spielt Simon McBurney expressiv gestikulierend und wacker parlierend, als sei da ein Sketch-Komiker am Werk. Er zieht diese komische Tour - mit Brille, schlampertem Anzug, Sandale an einem Fuß, Stiefel mit loser Sohle am anderen - auch durch, doch er gibt zugleich unübersehbar den gewitzten Plebejer, der seine Sympathie für Grusche kaum verbergen mag. Wie dieser Richter verehrt, selbst wie er drangsaliert wird, hat Poesie, erzählt unaufwendig etwas über einen Volkshelden, der klug und friedfertig seine Robe ablegt, als neue Machtverhältnisse es geboten erscheinen lassen. Dennoch verkündet Knabe Michel zuversichtlich die Hoffnung der Alten: »Daß da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind ...«

Ein Hoch für den Dialektiker Brecht, bescheiden vorgebracht von versierten englischen Komödianten. Herzlicher Beifall in der Arena.

 

 

 

Neues Deutschland, 21. Juli 1997