9. Die Herausforderung Brecht (1962 – 1975)
9.9
Alexander Lang wird Regisseur
Mit Alexander Lang studierten ab 1963
u.a. Dorit Gäbler, Jenny Gröllmann,
Renate Krößner, Bettina Mahr, Walfriede
Schmitt, Heidemarie Wenzel, Hermann Beyer, Peter
Hladik, Peer Jäger, Günter Kurze, Eckart Müller, Beate Rosch, Hans-Gerd
Sonnenburg und Klausjürgen Steinmann.
Es war das Studienjahr, das 1966 Peter Hacks’
zauberhaftes Märchen «Der Schuhu und die fliegende Prinzessin» zur
Uraufführung brachte, eine damals außerordentliche
Aufmerksamkeit erregende Arbeit – sowohl wegen ihrer überraschenden politischen
Brisanz als auch wegen ihrer ästhetischen Präzision. Erstmals bewährte sich, was von Brecht zu lernen gewesen war, das sozial genaue gestische Spielen, im Umgang
mit einem romantisch-heiteren, lebensklugen Märchenspiel.
Es wurde sichtbar, daß die Ausbildung,
sofern sie methodisch richtig den elementaren Schaffensprozeß bedient,
angehende Schauspieler für die poetische
Stileigenart eines jeden Dichters öffnet. Über Alexander
Lang schrieb ein Kritiker: «Sehr überlegen und
überlegt Alexander Lang als Erzähler, der in die Handlung
eingreifen und sie kommentieren darf.» (9.49)
Den künftig führenden Regisseur konnte damals
noch niemand ahnen. In die Handlung
eingreifen und sie kommentieren — dies ist eine Art Markenzeichen des
inzwischen arrivierten Inszenators des
Deutschen wie überhaupt des deutschen Theaters.
Von der Schauspielschule ging der 1941
geborene Alexander Lang 1966 an das Maxim
Gorki Theater, wohin ihn Wolfram Krempel
geholt hatte, von da 1967 an das Berliner Ensemble
und 1969 an das Deutsche Theater. 1972 spielte er den Ferdinand in «Kabale und Liebe», 1973 den Paul Bauch in Volker Brauns «Die Kipper», 1974 den
Caliban in Shakespeares «Sturm» (Regie: Friedo Solter), 1975 die
Titelrolle in «Prinz Friedrich von Homburg» von Heinrich von Kleist und 1977
die Titelrolle in Heiner Müllers «Philoktet».
Lang als Paul Bauch in Brauns
„Die Kipper“
Als Schauspieler gehört Alexander
Lang zu den unverwechselbaren Persönlichkeiten. Da
ist stets das leidenschaftliche Engagement für die Gestalt, etwa des Paul
Bauch, da ist die phantasievoll-kritische Figurensicht,
etwa wie beim Prinz von Homburg, und da ist die scheinbar theatralisch naive, aber sozial genaue Studie, etwa beim Kleistschen Ruprecht. Langs Figuren zu beobachten, bereitet Genuß. Sein Spiel ist ein sorgfältiges Erzählen, und sein Erzählen ist
hinreißendes Spiel — stets als das große Wunder theatralischer Verzauberung.
Lang als
Philoktet von Heiner Müller
Hier auch liegt seine ungewöhnliche
Schöpferkraft als Regisseur. «Ja, das macht
auch die "Magie" des Theaters aus», bekennt er. «Zuschauer und
Theaterleute treffen für eine begrenzte Zeit
eine gemeinsame Verabredung. Die einen lassen sich Geschichten erzählen, und die anderen erzählen sie.
Offensichtlich ist das Bedürfnis danach immer noch sehr groß. Unsere direkte
Spielweise baut auf realer, täglicher
Erfahrung auf. Die Zurückführung beispielsweise klassischer Texte auf
konkrete zeitgenössische Verhaltensweisen ermöglicht erst
mitunter überraschende Erlebbarkeit.» (9.50)
Hier spricht bereits der Regisseur,
der in den achtziger Jahren mit teils umstrittenen, teils gefeierten
Inszenierungen Bewegung ins Theater brachte, und zwar in Auf- und Verarbeitung der progressiven Linien des europäischen Theaters von Brahm und
Reinhardt über Piscator, Stanislawski, Meyerhold und Tairow bis Brecht,
Langhoff und Heinz. Reinhardt hatte gesagt: «Denn das ist unser Beruf: die
Werke, die wir geerbt haben, immer wieder von Neuem zu erwerben, um sie zu
besitzen. Das heißt: sie aus dem Geiste unserer Zeit wieder neu zu gebären...
Werke jedoch auszugraben und auszustellen, ohne sie wieder beleben zu können,
ist Leichenschändung...» (9.51)
Alexander Lang erklärt: «Ich bin weder in der Lage noch
willens, einen Text so zu machen, wie er angeblich seit Jahrhunderten gespielt
wird, denn das wäre eine Art neutraler Historizismus, der unverbindlich im Raum
steht und keinem weh tut. Das wäre ein antirealistisches Theater, denn der
Realismus besteht ja darin, daß ich Fabeln und Stücke erzähle von heute, aus
meiner Erlebniswelt, meinem Wissen, aus der Weltlage. Andernfalls würde ich das
Theater zu einer restaurativ-statischen Institution machen, aber Theater ist
immer ein dynamischer Prozeß - die Zeitgeschichte nimmt immer Einfluß auf die
Interpretationsgeschichte... Der Brennpunkt ist die Aufschlüsselung von heute.»
(9.52)
Diese theaterästhetische Konzeption verficht Alexander
Lang mit streitbarer Radikalität. So etwa, wenn er mit seiner Inszenierung des
Büchnerschen «Danton» 1981 Danton und Robespierre vorwirft, daß sie die
Magenfrage des Volkes nicht hatten lösen können, und beide Gestalten äußerst
kritisch betrachtet. Langs Inszenierungen haben dazu beigetragen, die
Weltgeltung des Deutschen Theaters als Heimstatt großer realistischer
Bühnenkunst nachhaltig zu behaupten, und zwar ganz bewußt vorwiegend mit
nationaler Dramatik. Genannt seien «Horribilicribrifax» von Andreas Gryphius
(1978), «Der entfesselte Wotan» von Ernst Toller mit Christian Grashof (1979),
«Sommernachtstraum» von Shakespeare mit Margit Bendokat, Katja Paryla, Roman
Kaminski und Dieter Mann (1980), Heinrich Manns «Traurige Geschichte von
Friedrich dem Großen» in eigener Bearbeitung (1982), «Die Rundköpfe und die
Spitzköpfe» von Bertolt Brecht (1983), Goethes «Iphigenie auf Tauris» mit Katja
Paryla und Grabbes «Herzog Theodor von Gothland» mit Christian Grashof (1984),
schließlich Johannes R. Bechers «Winterschlacht» mit Dieter Mann (1985).
Mit der «Winterschlacht» vor allem reihte sich Lang ein
in die nun schon historische Reihe bekennender Realisten, die humanistisches
sozial-realistisches Theater machten und machen als eine Lebensaufgabe. «So
vereinfachend es klingen mag, Verteidigung der Kunst gegen Krieg, die
Verteidigung von Kunst als Äußerung menschlichen Lebens und Schöpferkraft ist
auch Verteidigung des Friedens. Das Theater muß Stellung zu dieser Frage
beziehen, und es muß seine Haltung dazu mit seinen, ihm eigenen Mitteln
künstlerisch vollendet und so eindeutig wie möglich anbieten und sinnfällig
machen. Bechers "Winterschlacht" ist für mich ein theatralisches
Bekenntnis gegen Faschismus und Krieg in direktem Bezug zum 40. Jahrestag der
Befreiung vom Hitlerfaschismus durch die Rote Armee.» (9.53)
Im Gespräch mit Alexander Lang beeindruckt, wie dieser
Regisseur sein Instrument, das Theater, optimal auszurüsten versucht. «Was ich
ganz spannend finde», sagte er 1985, «ist ja: Die Gesellschaftswissenschaftler
entdecken dauernd etwas Neues, auch die Historiker, die Germanisten. Eigentlich
müßte dies in einem produktiven Zentrum wie dem Theater zum Tragen kommen. Wir
müssen die Entdeckungen der Wissenschaften aufgreifen. Natürlich immer anhand
von konkreten Texten. Dabei ist der Untersuchungscharakter der Proben ganz
wichtig, so wie die Wissenschaftler im Labor ihren Gegenstand untersuchen.»
Folgerichtig erklärt Lang: «Kunst ist für mich kein
Betäubungsmittel. Das muß ich ganz klar sagen. Kunst ist für mich
Auseinandersetzung mit Lebensproblematik. Das ist für mich unverzichtbar. Dabei
bin ich nicht gegen das Heitere. Das Tragisch-Komische ist bei mir von
Shakespeare her geprägt. Das ist, was ich unter Volkstheater-Tradition
verstehe, diese ständige Gratwanderung zwischen Tragischem und Komischem. Also
der Arlecchino, der immer ein armer, geprügelter Hund ist und doch mit List
über Komik sich Befreiung verschafft. Diese Bipolarität möchte ich schon auf
dem Theater sehen, sonst langweilt es mich. Meine Art ist, mich ständig in
Bezug zu setzen von der Gegenwart zur Geschichte und von der Geschichte her zur
Gegenwart, und dann die zwischenmenschlichen, partnerschaftlichen Beziehungen
der Figuren zu untersuchen, und zwar stets im Spielerischen.»
Lang gibt einen Ausblick auf Möglichkeiten von Theater:
«Theaterkunst», sagt er, «ist wirklich auch eine ökonomische Größe. Wenn
Menschen gedanklich in der Lage sind, eine Sache dialektisch zu betrachten,
dann kommt eine neue Lösung zustande. Wenn ich dies Vermögen nun trainiere über
Theaterkunst, dies gedankliche Umgehen mit Wirklichkeit, kommt das
logischerweise letztendlich dem Arbeitsprozeß zugute. Natürlich geht das nicht
so unmittelbar, wie wir das einmal bei Produktionsstücken vermutet haben. Aber
wenn die Geistesarbeit objektiv immer mehr zunimmt, wird das immer spannender.
Das Theater könnte eine ganz tolle Schubkraft werden. Das ist eine Dimension,
mit der wir noch gar nicht richtig hantieren.» (9.54)
1992, inzwischen Regisseur am Schiller-Theater Berlin, äußerte Alexander
Lang in einer Diskussion im Künstlerclub „Die Möwe“ auf Fragen junger Zuschauer
nach Auseinandersetzungen mit Utopien: „Ich kann Lebenshilfe nicht geben. Ich
sehe, es wiederholt sich etwas, von dem ich geglaubt habe, es würde nie wieder
sein. Ich bin paralysiert. Ich bin auf der Suche. Mehr kann ich nicht sagen.“ (9.55)
Lang, der zur schließlich zerstrittenen Leitungs-„Viererbande“ am
Berliner Schiller-Theater gehörte, arbeitet mittlerweile als Gastregisseur
vorwiegend in München und in Berlin.
Lang als Prinz Friedrich
von Homburg
Anmerkungen:
9.49 Ernst Schumacher, Der Schuhu und
die fliegende Prinzessin, Berliner
Zeitung, 5.5.1966 Zurück zum Text
9.50 Alexander
Lang, Da ist immer die Lust am Entdecken, in:
Sonntag, Berlin 21/1983 Zurück zum Text
9.51 Siehe Anmerkung 4.77 Zurück zum Text
9.52 Alexander Lang, Da ist immer..., a.a.O. Zurück zum Text
9.53 Werkstattgespräch m. A. Lang, Berliner Zeitung, 12., 13.10. 1985 Zurück zum Text
9.54 Gespräch m. A. Lang v. 26.11.1985,
Archiv G. Ebert, Tonb.-Aufz. Zurück zum Text
9.55 Zitat
aus „Theater erneut Nester des Widerstandes?“ von Gerhard Ebert, Neues
Deutschland, 5.Oktober 1992 Zurück zum Text
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