„Lear“ von Shakespeare vom Royal National Theatre London, Regie Deborah Warner

 

 

 

 

Der Narr  -  vernünftigster Mensch im Gerangel um Macht

 

Was bewog William Shakespeare im Winter 1604/05 zu seinem „Lear"? Wollte er einem eigennützigen Regenten und ungerechten Vater verzeihen? Wollte er einem bornierten König ein literarisches Denkmal setzen?

Der Deutungen sind viele. Beim Gastspiel des Londoner Royal National Theatre, das auf seiner Welt-Tournee in Leipzig und Dresden Station machte, schien mir keine der gängigen Lesarten vorgekehrt. Regisseurin Deborah Warner idealisierte Lear nicht, gab das Werk aber auch nicht als absurdes Endspiel. Auf dekorationslos nüchterner Bühne (Design: Hildegard Bechtler) ließ sie zügig vom Blatt spielen, nur auf die drängende Rhetorik des Dichters setzend.

Die Theatralik des ins Widersinnige sich dehnenden vierstündigen Spiels ist mir freilich pur zu wenig. Lears königliche Fehlentscheidung mit all ihren schlimmen familiären Folgen ist zwar harmlos im Vergleich mit der aktuellen Hybris derer, die einen modernen Raketen-Krieg kommandieren — aber wer heute im Parkett sitzt, bringt halt seine Gegenwart mit, sein sensibilisiertes Feeling für die Gebrechlichkeit weltlicher Rangordnungen.

Aufmerksamer denn je wird registriert, was Lears Narr verkündet. Noch immer, vierhundert Jahre nach Shakespeare, gilt dessen beißend-sarkastisches Bild von der verkehrten Welt, in die erst dann die rechte Ordnung einzieht, wenn umgekehrt wird, was diese Welt „Ordnung" nennt.

Hier nun doch auffällig deutende Regie. Der Narr ist bei Deborah Warner neben Cordelia unverkennbar der vernünftigste Mensch in all dem trostlosen Gerangel um Macht. David Bradley gibt ihn als eine abgerissene, armselige Vogelscheuche mit großen, die Heuchelei dieser Welt grimmigen Blicks durchbohrenden Augen. Mit knarrender Stimme verteilt dieser Souverän des Pauperismus seine scheinbaren Boshaftigkeiten.

Unaristokratisch Brian Cox als Lear: ein Egoist vom Format eines Falstaff, gewitzt, launig und lebensfremd. Nach einem karnevalistischen Treiben entschließt sich dieser König ausgelassen zum Ver­teilen seines Reiches an die Töchter. Ein vitaler Mann, der, scheint's, die „Leitungsgeschäfte" über hat und endlich seiner Neigung leben will. Aber feudalen Respekt bedingt er sich aus. Wild und ungestüm rast er gegen Cordelia (Eve Matheson), die Wahrheit höfischer Heuchelei vorzieht.

Sobald Lear aller Regierungspflichten ledig ist, tummelt er sich übermütig mit seiner Gefolgschaft, einer Horde fröhlicher Schmarotzer. Was die Töchter, Goneril (Susan Engel) und Regan (Clare Higgins), nun besitzend, selbstverständlich nicht bezahlen. Bissig, weinerlich, gekränkt wehrt sich Lear. Wenn Cordelia schließlich tot in seinem Schoß liegt, hat er plötzlich eine rote knollige Clowns-Nase zur Hand. Er setzt sie sich auf, sinniert, möchte sie ihr aufsetzen, zaudert, stirbt. Verständnis für Lear. Eben auch nur ein Mensch!

Die Spielweise der Truppe des 1967 von Sir Laurence Olivier gegründeten Royal National Theatre überzeugt durch sprecherische Virtuosität. Aus rednerischer Sprache entsteht die Gebärde, teils konkret und beredt, teils allgemein und konventionell. Szene für Szene treten die Figuren rasch auf, finden das Arrangement und spielen statuarisch in der Haltung und leidenschaftlich im Ton.

Das ist durchweg von theatraler Noblesse, auffällig in Richard Eyres Inszenierung von „Richard III." Dies nun prononciert ein politi­sches Spektakel. Richard nicht als exzentrischer tyrannischer Bösewicht der Renaissance, sondern als faschistoider Diktator des 20. Jahrhunderts. Ein Offizier, eingeschnürt ins Reglement der Uniform, mit steifem linken Arm, mit lädiertem linken Bein und schleifendem Schritt: eine militärische Ruine a priori. Um so grotesker, wenn er sich die Rüstung anlegen läßt, um sich in die Schlacht zu stürzen. Daß sich Tyrannen doch immer wieder überheben! Wie zertretenes Ungeziefer liegt er alsbald im Bühnennebel.

lan McKellen gibt diesen Richard als einen Mann von eiskalt-rationalem Kalkül. Immer hat er die Bibel zur Hand. Er ficht nicht etwa Interessen eines Königshauses aus, sondern ist der selbsternannte Führer einer zur Macht strebenden Organisation.

Stürmische Ovationen an beiden Abenden in Leipzig.

 

 

 

Neues Deutschland, 4. März 1991