„Liebe Tod Macht“ von Thomas Brasch
am Schiller-Theater Berlin, Regie Katharina Thalbach
Zeitgenössische Moritat von Romeo und Julia
Wer William Shakespeare bearbeitet, muß damit rechnen, daß der große Brite letztlich der Stärkere ist. Thomas Brasch scheute das Risiko nicht. In gemeinsamer Inszenierung mit der Regie-federführenden Komödiantin Katharina Thalbach brachte er jetzt am Berliner Schiller-Theater seine Fassung der Tragödie "Romeo und Julia" heraus - und provozierte den Vergleich.
Shakespeare entdeckt in seinem um
1595 in London uraufgeführten Drama sich selbstbewußt behauptende Liebe, und
zwar als eine wahre Naturgewalt gegenüber aller Konvention. Sie ist die poetische
Seele des Werkes. Elementar bricht sie los zwischen den halbwüchsigen Kindern
der verfeindeten Familien Capulet und Montague und geht, kaum erblüht, im absolut
regierten Verona tragisch zugrunde. Aber ein Prinzip Hoffnung ist gesetzt für
alle Liebenden selbst in miserabelster Zeit. Denn die Figuren auf der Bühne
sterben schließlich für die, die im Parkett sitzen.
Brasch sieht das anders. Er beließ zwar
seiner Julia (Wiebke Frost) die Reize eines selbstsicher liebenden Mädchens,
doch sein Romeo (Guntbert Warns) ist kein junger, tragischer Held der Renaissance.
Er ist die Mischung eines melancholischen Hamlet mit einem verdrießlichen
Leonce zu einem blaßgesichtigen, traurig-schlaffen Edgar Wibeau mit Sinn
allenfalls auf Sex. Womit Shakespeare entseelt ist - und Neugier geweckt. Auf Shakespeare.
Denn diese Stück-Position - stellt sich heraus - ist frei auf den Berliner
Spielplänen. Eine Chance für Thomas Langhoff am Deutschen Theater, für Peter
Stein an der Schaubühne.
Indessen: Thomas Braschs Bearbeitung
nach Shakespeare „Liebe Macht Tod oder Das Spiel von Romeo und Julia"
geheißen, sei nach ihren eigenen Meriten beurteilt. Der dramatische Drehzapfen:
Anstatt mit möglichem Glück wird Liebe a priori mit sicherem Tod identifiziert.
Die Figuren: wie freundliche Karikaturen, kabarettistisch konturiert. Die
Dialoge: deutlich vom Berliner Zeitgeist beeinflußt. Viele unverfrorene Anspielungen
auf Verona, das Hauptstadt werden will. Noch zahlreicher die übermütigen, auch
zynischen, in englischer Theater-Tradition stehenden Nonsens-Wortspiele (worin
sich Oliver Stern als Mercutio auszeichnet).
Die spätmittelalterliche Stadt wird
von einem autoritären Prinzen (Ulrich Noethen) regiert, der die Kleinen hängen
und die Großen laufen läßt, die streitsüchtigen Herren Capulet und Montague allerdings
zum Familienfrieden zwingen möchte.
Aber die eigentliche geheime Macht am
Ort ist die Kirche. Repräsentiert wird sie durch Bruder Laurence (Markus
Völlenklee), vorgestellt als Erforscher der Liebe , in dieser Welt aus Macht,
Zwang und Krankheit. Zu ihm gesellt sich die fachlich kompetente Hure Susan,
die als Bruder John (Katharina Thalbach) fungiert. Beide hüllen sich zum
Auftakt in graue Mäntel und rackern fortan als komisch-geheimnisvolle
Spielmeister. Sie arrangieren und kommentieren alles in allem (bis auf unnötige
Füllsel nach der Pause) eine in Versen von erfrischender Schnoddrigkeit geschriebene
und zu burleskem Spiel verlockende Tragigroteske (für den Dramatiker Brasch
übrigens ein wichtiger Schritt hin zu kommunikativen Texten).
Die Szene Ezio Toffolutis bietet eine
abgewandelte Simultanbühne mit ihren zahlreichen Stationen, hier Türen, Fenster
und Treppen in und an den Wänden. Im Nu können sich Köpfe neugierig aus Dutzenden
Öffnungen recken. Vater Capulet, ein borniert-militanter Greis (Hans Teuscher
sehr präzise), scheint überall zu Hause. Wenn seine schwarze Mafia unter Tybalts
Führung (Peter Lohmeyer) den friedfertigen Bürgern unheildrohend Krieg
verkündet, ist kein Ausweg mehr. Aus diesem Verona kann man kaum entrinnen. Es
ist ein großer, nach vorn zum Publikum aufgeklappter, außen schwarzer und innen
roter Kasten, über dessen Rand von oben hereingeschaut werden kann. Sobald dort
die Spielmeister Laurence und John auftauchen, fehlen eigentlich nur noch die
Fäden, an denen die Marionetten tanzen. Bei der Amme (ausgezeichnet Sabine Orleans)
glaubt man sie fast zu sehen.
Und wohinaus will die zeitgenössische Moritat?
Sie stellt rabiat alle Liebe und jegliche Gesellschaft in Frage. Sie tut's
gutgelaunt, als gehe sie davon aus, daß Abwesenheit von Humanität allgemein bekannt
ist, und zwar als unabänderlich. Weshalb man sich wenigstens darüber ergötzen
sollte. Oder es hilft nur ein radikaler Schnitt! Und siehe: Zu irrerletzt wirft
der Prinz höchstselbst Feuer in das verpestete Verona. Die immerhin noch eben verkündete
Versöhnung zwischen den Häusern Capulet und Montague versinkt in den Flammen.
Und die mittelalterlichen Geister der Toten Mercutio, Tybalt und Benvolio
requirieren den Forscher Laurence mittels seines berühmten Schlaftrunkes für
die am Ende des Jahrtausends zu erwartende Pest...
Womit dem Theaterabend denn endgültig zu
viele Absichtlichkeiten aufgetragen werden. Aber das Gaudi wird allweil perfekt
vorgeführt. Viele schauspielerisch schöne Einfälle. Die Kissenschlacht zwischen
Julia und Romeo ist der schönste. Stürmischer Beifall zur Premiere. Aber
Buhrufe für den Autor.
Neues
Deutschland, 19. November 1990