„Liebe auf der Krim“ von Slawomir Mrozek am Renaissance-Theater Berlin, Regie Oswald Lipfert

 

 

 

Russische Seele im Bordell

 

Im Jahre 1910 auf der Krim. In der Pension »Nizza« Urlauben gut situierte Russen. Eine Lehrerin. Eine Schauspielerin. Ein Eisenbahn-Ingenieur. Ein strammer Oberleutnant. Diese und jene. Man konversiert in Tschechows Manier. Den Ton gibt Iwan Zachedrynskij (Gerd Kunath) an, ein Salonpoet, etwas altklug mit der Langeweile kokettierend. Plötzlich gespannte Aufmerksamkeit. Vor aller Ohren wirbt Oberleutnant Pjotr Sejkin (Viktor Neumann) um die Hand der Schauspielerin Lily (Marion Kracht). Er wird erhört, hat aber offenbar nur gescherzt; denn ihre Zustimmung quittiert er mit einem Abgang. Allgemeine Verstörung. Russische Seelen vibrieren! Geschäftsmann Tschelsow (Horst Krebs), willens, demnächst von Lopachin den berühmten Kirschgarten zu kaufen, ballert mal eben mit einem Gewehr herum. Was Lenin (Oliver Waiser) mißversteht als einen Schuß der »Aurora« und viel zu früh auftritt.

Womit Slawomir Mrozeks tragische Komödie »Liebe auf der Krim« jenen ironisch-surrealen Stil erreicht, den der polnische Dramatiker perfekt beherrscht und der dem Abend politisches Profil und theatrale Kurzweil beschert. Dank dem Berliner Renaissance-Theater für die deutschsprachige Erstaufführung. Wenn der herzliche, lang anhaltende Premierenbeifall nicht täuscht, war das Publikum von Mrozeks bissig-sarkastischer und zugleich verständnisvoll-kritischer Sicht auf rund hundert Jahre russische Geschichte merklich beeindruckt.

1928. 2. Akt. Die Pension »Nizza« fungiert als das etwas ramponierte Erholungsheim »Rotgardist« (Bühnenbild Dieter Klaß). Und welch Wirrwarr in der russischen Seele! Vor zwei Dezennien schien eine öffentliche Liebeserklärung unschicklich. Jetzt macht man nicht viele Umstände. Und die Initiative liegt bei den Frauen. Umworben ist der einstige Salonpoet Zachedrynskij, jetzt Stellvertretender Vorsitzender in Sachen Kultur. Er ist durchaus kein gefühlloser Apparatschik, sondern ein Genosse, der sozialen und persönlichen Belangen gleichermaßen gerecht zu werden versucht. Was ihn in eine mißliche Lage bringt.

Die Zeit geht über ihn hinweg. 3. Akt. Gegenwart. Aus dem Untergrund der einstigen Pension, die jetzt ein Bordell ist, tauchen dubiose Gestalten auf. Petja (Boris Aljinovic), ein Enkel Iwans, führt das Kommando einer Gang, die Frauen für Bordelle kapert. Sie warten auf ein Schiff aus Amerika. Mit ihnen Abenteurer, Enttäuschte, selbst ein ratloser Pope. Petjas Sinn fürs Geschäft sagt ihm, die Ökonomie würde stimmen, kämen ausländische Huren nach Rußland. Aber die »Freiheit« rechnet sich anders. Die Taiga wird an die Japaner verkauft, und russische Mädchen in alle Welt. In eine Welt, die Iwan Zachedrynskij nicht mehr versteht und auch nicht verstehen will. »Es hat sich alles verändert«, sagt er, »und es gefallt mir nicht!« Die russische Seele? Ihr Marktwert heißt Prostitution.

Mrozek, berühmt und gefürchtet wegen seiner unbestechlichen Wahrheitsliebe, 1996 nach mancherlei Enttäuschung aus Mexiko nach Krakau zurückgekehrt, offenbar kein Sympathisant kapitalistischer Restauration, zieht eine drastische Bilanz. Und Regisseur Oswald Lipfert (am Haus mit »Der nackte Wahnsinn« erfolgreich) sowie sein Ensemble nachempfinden Tragik wie Komik des abgrundtief Grotesken der historischen Vorgänge.

 

 

 

Neues Deutschland, 3. April 1997