„Der Lohndrücker“ von Heiner Müller, Uraufführung am Schauspielhaus Leipzig, Regie Günter Schwarzlose

 

 

Neue Stücke  -  neue Probleme

 

 

 

In einer Studio-Inszenierung wurde Heiner Müllers Szenenfolge „Der Lohndrücker" nun endlich der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Aufführung ist eine beachtliche Ensembleleistung der .Leipziger Künstler, die Müllers „Lohndrücker" (und Baierls „Feststellung") neben der normalen Probenarbeit einstudierten. Daß dabei ein echter Theaterabend zustande kam, soll hier vorweggenommen und dafür plädiert werden, beide Stücke schleunigst in den Abendspielplan aufzunehmen.

Feststand, daß die Erprobung des Stückes — auf das der SONNTAG bereits in Nr. 52/57 hinwies — wichtige Aufschlüsse geben würde über die neue Dramatik, ihre Darstellung und ihre Publikumswirksamkeit. Wenn nun die Kritik herausfinden sollte, Theaterstücke wie „Der Lohndrücker", welche die Exposition des Konfliktes, seine Entwicklung, Austragung und Lösung nur in filmartig aufblendenden Szenen und Szenchen liefern, seien wegweisend für die neue Dramatik, muß sie damit rechnen, daß flinke Ästheten sehr bald eine passende Theorie zur Hand haben, vor der dann die Dramatiker sitzen wie die Kaninchen vor dem Licht. Sie muß sich das also gut überlegen.

Selbst bei den günstigen Leipziger Bühnenverhältnissen wurde offenkundig, daß dieses Stück enorme Anforderungen an die Technik stellt. (Das Bühnenbild wurde im Hinblick auf Gastspiele relativ praktisch gebaut von Harald Reichert.) Aber das interessiert erst in zweiter Linie. Wichtiger ist: Da Müller die Aussage jeder einzelnen Szene geradezu wie mit Zeitraffer und Lupe komprimiert, so daß der Inhalt seine knappe, verdichtete Form fast zu sprengen scheint, eine Qualität, die vom Darsteller wie vom Zuschauer Konzentration auf den wesentlichen Vorgang erzwingt, gibt er sozusagen nur die markanten Drehpunkte seiner Handlung. Dem jungen Regisseur Günter Schwarzlose ist es zwar gelungen, nahezu jeder Szene jene Dichte, jene drangvolle Gewichtigkeit zu verleihen, die der Text verlangt, und gleichzeitig den Handlungsbogen durchzuhalten beziehungsweise sichtbar zu machen (die Realisierung des Stückes auf der Bühne ist also möglich), aber er kann nicht verhindern, daß die zahlreichen Pausen Aufmerksamkeit absorbieren. Der Autor sollte sich auf spezifisch dramatische Gestaltungsprinzipien besinnen und die Erneuerung des Theaters nicht durch eine Art abgewandelte Filmtechnik suchen. Hier liegt eine gewisse Gefahr, die verknappende, ungestische Behandlung des Konfliktes zur Manier zu machen.

 

Der neue Inhalt macht das Stück schon heute zu einem theatergeschichtlichen Ereignis. Die Pionierarbeit von Karl Grünberg und Hermann-Werner Kubsch in den ersten Jahren unseres Aufbaus, ihr Vorstoß zu neuen Inhalten in der Dramatik ist nicht vergessen. Aber was damals noch nicht mehr als ein Versuch werden konnte, das ist heute, einige Jahre danach, das sozial realistische Abbild eines bestimmten Abschnittes unserer Entwicklung, aus der Erfahrung gestaltet und deshalb gültiger in seiner künstlerischen Aussage.

 

1948/49 in einem volkseigenen Betrieb. Balke, ein Maurer, der erkannt hat, was es heißt, für sich selbst zu schaffen, demzufolge nach neuen Normen arbeitet und mehr verdient, wird von der Belegschaft des Betriebes als Lohndrücker beschimpft. Als er mit zwei Kollegen, die er für die Arbeit gewinnen kann, kurzfristig einen Ringofen reparieren will, wird seine Arbeit sabotiert, er selbst verprügelt. Er weiß, was er will, dennoch droht er zu verzagen. Da hilft die Partei. Schließlich erkennt auch einer seiner Gegner, worum es geht, und hilft ihm. Dieses Geschehen aus dem Jahre 1948, heute auf der Bühne betrachtet, weckt Optimismus im Zuschauer; denn der weiß, so ist es gewesen, aber so ist es nicht mehr; inzwischen gibt es viele Balkes. Und seine Gegner, die auch noch heute im Parkett sitzen, werden nachdenklich gestimmt. Wir hoffen daher, dem Stück bald auf anderen Bühnen zu begegnen.

 

Die Aufführung ist eine Kollektivleistung, steht jedoch im Zeichen eines Darstellers. Horst Hiemer gibt den Balke. Hiemer ist ein junger begabter Schauspieler. Vor wenigen Jahren von der Theaterhochschule zur Leipziger Bühne gekommen, spielt er jetzt zum ersten Male eine große Rolle der sozialistischen Dramatik. Und das Beglückende tritt ein: Hier trifft sich — wie zu Lessings Zeiten der bürgerliche Schauspieler mit der bürgerlichen Rolle — der neue, sozialistische Darsteller mit der neuen, sozialistischen Rolle. Da steht ein kluger, bewußter und einfacher Arbeiter auf der Bühne, beherrscht, konzentriert, nicht ohne Widersprüche. Welch besonnene Energie steckt in ihm, gepaart mit Bescheidenheit, Stolz und Kraft! Wenn er dem hochnäsig-ungläubigen Ingenieur seinen Plan zeigt, ist er fast schüchtern, aber wißbegierig zugleich und selbstbewußt.

 

Aus der Vielzahl der Darsteller seien noch genannt Martin Knapfel als Arbeiter Krüger, sehr treffend in der Charakterisierung eines Arbeiters, dessen Klassenverbundenheit ihn schließlich zum Handeln zwingt. Prägnante Charaktere geben auch Ivan Malre als Arbeiter Zemke, Gerd Fürstenau als Arbeiter Lerka und Günter Grabbert als Parteisekretär Schorn. Manfred Zetzsche sollte die Figur des Arbeiters Karras von vornherein um einiges widersprüchlicher anlegen, damit seine Aktion im letzten Bild, nämlich die Hilfe für Balke, glaubhafter wird.

Das Publikum, am Premierentag nach einstündiger voraufgehender Feier etwas nervös und unkonzentriert, hatte anfangs sichtlich Mühe, der knappen Handlung zu folgen. Von der eigenen Phantasie hinzusetzen zu lassen, was der Autor nicht ausspricht, ist ohnehin ungewohnt und bereitet einige Schwierigkeiten. Die Zuspitzung des Konfliktes fand schließlich das ungeteilte Interesse, und die Zustimmung am Schluß war ehrlich und klar.

 

SONNTAG, 6. April 1958