„Lulu“ von Frank Wedekind am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Uwe Eric Laufenberg

 

 

 

Verführung in aller Unschuld

 

Die Dramen »Der Erdgeist« und »Büchse der Pandora« von Frank Wedekind als monströse Sex-Tragikomödie am Berliner Maxim Gorki Theater. Man geht halt mit der Zeit. Und der entzückte Beifall des Premieren-Publikums belegt: Da sind hohe »Einschalt-Quoten« zu erwarten. Immerhin hatte schon Alfred Polgar gefordert: »Eigentlich müßte man >Lulu< als Groteske spielen, als Höllen-Belustigung, nicht als Erden-Tragödie.«

In der Tat: Treuherzig pur wäre das Seelenpathos dieser expressiven Schauerstücke des Wedekind (1864-1918) heute kaum zu ertragen. Ich finde akzeptabel, daß Regisseur Uwe Eric Laufenberg, unterstützt von Manfred Möckel und Bernd Wilms als Dramaturgen, eine Inszenierung versuchte, die das Groteske der Vorgänge aufdeckt und mit modernem Naturalismus freizügig und fröhlich vorführt, welch wahrer Ausbund emanzipierter sexueller Verführungskunst Lulu ist.

Die Bearbeiter verzichteten auf den Prolog und den Tierbändiger, der mit Hilfe einer Hetzpeitsche die Darstellerin der Lulu als eine Schlange vorführt, als ein zu unterdrückendes Tier, das geschaffen wurde, Unheil anzustiften. Dafür geben sie als Vorspiel eine Sequenz des letzten Aktes: Lulu, einst naives Kind der Straße, verkommen zur Dirne und zugleich verklärt als attraktive Tänzerin, die herausfordernd lüstern ihren Busen zeigt. Zum Auftakt also: das verführerische junge Weib, die zu vergötternde Schönheit.

Alles weitere funktioniert, weil Franca Kastein, die die Lulu gibt, im Verlaufe des Spiels über sich selbst hinauswächst. Die schlanke, herbe junge Darstellerin mit verrauchter Stimme entfaltet ein hinreißendes Temperament und eine vollkommene weibliche Unschuld. Wie sie den Männern mit keck-leidenschaftlicher Nonchalance an die Wäsche geht, zeigt, daß sich hier eine Frau, durchaus auch getrieben, selbstbewußt holt, was die Natur nun einmal vorgesehen hat. Just dies normale Bedürfnis führt ins Verderben. Was die Tragödie ist: Das Weib, ursprünglich gesund, verschlissen in der bürgerlichen Männer-Gesellschaft.

Der komische Zugriff gelingt am besten im ersten Teil. Wie Lulu mit erfrischender Unbekümmertheit den Kunstmaler Schwarz (Frank Seppeler) verführt, selbst wie sie verzweifelt von ihrem einem Schlaganfall erlegenen Gatten, dem Medizinalrat Goll (Albert Hetterle), Abschied nimmt, und wie sie, nun in unbefriedigender Ehe mit Schwarz lebend, ihren eigentlichen Geliebten und Gönner, den Chefredakteur Dr. Schön, neu umwirbt - stets hat die Szene durch realistische Genauigkeit eine unmittelbare sinnliche Direktheit, die gefangen nimmt. Manfred Karge trägt wesentlich dazu bei. Er verleiht dem Dr. Schön zwar einen etwas überzogenen Lamento-Ton, ansonsten aber, fein ironisierend, eine geradezu feierliche Scheinheiligkeit. Auch Klaus Manchen überzeugt als ausgebuffter Schigolch, Lulus vermeintlicher Vater. Und Harald Schrott gibt als Aiwa, Sohn Dr. Schöns, das köstliche Bild eines närrisch und kopflos verliebten jungen Mannes. Die Verführung zu Tische - ein Kabinettstück.

Der zweite Teil dann, nach der Pause, fällt leider deutlich ab. Im Hin und Her der nun ohnehin auseinanderstrebenden Handlung verliert sich die Fabel. Auch wird zu viel Englisch gesprochen. Wahrscheinlich, um im konstanten Bühnenrahmen (zuständig Christoph Schubiger) deutlich zu machen, daß Lulu, die ihren Mann, den Dr. Schön, umgebracht hat, jetzt illegal in London lebt. Aber es wird kaum erkennbar, daß sie ihre Flucht der Gräfin Geschwitz verdankt, der Lesbe, die unsterblich in Lulu verliebt ist und sich für sie aufopfert. Die Geschwitz, die eine sinnlich präsente Frau sein müßte (bei Wedekind übrigens zurück nach Deutschland will, um für die Frauenrechte zu kämpfen), ist mit der schmächtigen, kleinen Monika Lennartz einfach ungeschickt besetzt. Im zweiten Teil findet faktisch nicht statt, was diesen Part zusammenhält: die lesbische Liebe. Die Regie blieb sich nicht treu. Mystik zum Schluß. Aiwa schaut apathisch dem Morden »Jack the Rippers« zu, bläst dann das Licht aus.

Nichtsdestotrotz: Theater kann Spaß machen, selbst wenn es ehrlich vorführt, daß sich die sozialen Verhältnisse seit Wedekind kaum verändert haben.

 

 

 

 

Neues Deutschland, 8. April 1998