„Wer kümmert sich um Malachow“ von Waleri
Agranowski am Volkstheater Rostock, Regie Siegfried Böttger und Hanns Anselm
Perten
Gewinn durch Fremdes
Auf den ersten Blick scheint das ein undankbares Stück zu sein. Es wirft unbequeme Fragen auf und dies unprätentiös, so gar nicht literarisch, geschweige denn poetisch. Eine szenische Reportage über einen Kriminalfall.
Die Vorlage lieferte Waleri
Agranowski. Er ist Journalist. In einer zwölfteiligen Reportage für die
»Komsomolskaja Prawda« berichtete er über Andrej Malachow, einen auf die
schiefe Bahn geratenen Jugendlichen. Auf Wunsch des Chefregisseurs des
Leningrader »Theaters für junge Zuschauer« machte er 1976 aus der Reportage ein
Stück. In Leningrad wurde es uraufgeführt und inzwischen von sechzig
sowjetischen Bühnen nachgespielt. Das läßt aufmerken. Ganz zweifellos: Das
sowjetische Theater fragt nicht in erster Linie nach modischer theatralischer
Opulenz. Es hat einen gesunden Spürsinn für Stoffe, mit denen ohne Umwege
sozialistische Wirklichkeit auf die Bühne gebracht werden kann. Es sucht
unmittelbar rezipierbare Vorgänge und verhandelt die Lebensfragen der Gegenwart
nicht verklausuliert und chiffriert. Mit diesem Stück greift es ein soziales
Problem auf, das an den Nerven zerrt. Auch uns. Angekommen in der
sozialistischen Wirklichkeit erleben wir, daß der Kampf noch immer Züge und
Momente hat, die wir nicht erwarteten, als wir uns auf den Weg machten. Wir
müssen uns ihnen stellen.
Andrej Malachow ist verurteilt, lebt
und arbeitet in einer Erziehungskolonie für jugendliche Straftäter. Es fing mit
Diebstahl an. Dann wollte er sich in der Schule böswillige Raufbolde vom Halse
schaffen. Für ein Tagesgeld heuerte er sich einen Schläger an, der es seinen
Kontrahenten heimzahlen sollte. Aber Andrej half das nicht viel, denn woher
sollten jene Burschen wissen, daß Andrej dahintersteckt. Also wurde auch er
weiter geprügelt, nur gingen auch seine Gegner nicht leer aus. Diese Genugtuung
kostete Geld, mehr als Andrej hatte und mehr als ihm seine Mutter heimlich zustecken
konnte. Der Vater, vom Sohn natürlich nicht eingeweiht und wahrscheinlich
ohnehin verständnislos, hatte stets nur ein Argument: Prügel. Andrej
vereinsamte seelisch, der Kontakt zu einem Mädchen zerbrach ihm, und immer
dringender brauchte er Geld. Seine Kumpane Bonifazi und Schmarr erpreßten ihn.
So überfiel er schließlich alte Frauen, entriß ihnen die Handtaschen, nahm ihr
Geld, kam zu Geld und wurde gefaßt. Zunächst glimpflich behandelt, begriff er nur:
Man muß eben noch geschickter sein. Das vorläufige Ende: Die Erziehungskolonie.
Das hier knapp umrissene Bild des Jugendlichen
Andrej Malachow wird im Stück ausführlicher entworfen, durch Fragen im
wesentlichen, welche der Journalist in der Kolonie an Malachow stellt. Der
alltägliche Arbeitsvorgang des Journalisten Agranowski wurde zur ästhetischen,
stücktragenden Struktur. Und wenn Andrej Auskunft gibt, wird diese oder jene
Begebenheit als Rückblende szenisch vorgeführt. Dabei ist jedes Geschehen auch
immer wieder dem fragenden oder protestierenden Zugriff der zumeist anwesenden
Beteiligten ausgeliefert: der Mutter, des Vaters, eines Psychologen, der Schuldirektorin,
der Klassenlehrerin u.s.w. Sie werden als Zeugen nach Belieben eingeblendet und
wieder ausgeblendet.
Den szenischen Effekt bekommt das
Ganze also durch den Gestus der Bestandsaufnahme, den der Journalist einnimmt,
und auch dadurch, daß vom Fall nie mehr ausgeplaudert wird, als ratsam ist, um
den Zuschauer bei wacher Neugier zu halten. Das mutet simpel an, ist aber recht
klug konzipiert und gebaut. Uns bewegt die Angelegenheit, weil sie uns etwas
angeht, aber auch, weil der Journalist einen erwachsenen Sohn zu Hause hat.
Dieser Sohn Anton, im großen und ganzen offenbar recht gut aufs Leben vorbereitet,
frappiert den Vater fortwährend durch unkonventionelle Fragestellungen. Mit wenigen
Worten vermag er Vaters Erkenntnisse in Zweifel zu ziehen, weiß er aber auch zu
neuen Überlegungen zu provozieren.
Daß Andrej Malachow ein Lispler sein muß und
dadurch von Kind auf selbst im kleinsten Kollektiv stets in eine Sonderstellung
geriet, halte ich nun allerdings für eine Inkonsequenz. Der Malachow der
Wirklichkeit, der Gegenstand von Agranowskis Reportage, mag ein Lispler gewesen
sein. Ihn auch im Stück dazu zu machen, nährt die im Stück diskutierte Version,
die Gene könnten schuld sein, nährt auch die Versuchung, einfach Andrejs
Sprachfehler zur Ursache allen Übels zu erklären. Der Autor entläßt uns mit einer
gewissen Ratlosigkeit.
Die Spielweise der Rostocker macht in der Inszenierung
von Siegfried Böttger und Hanns Anselm Perten keine Bestandsaufnahme, um einen
Schuldigen zu definieren. Sie spielen das Ringen um den Jugendlichen Malachow
und signalisieren die Kraft der sozialistischen Gesellschaft, sich mit Geduld und
auch Ungeduld immer wieder aufkommenden Problemen zu stellen. Der Hauch von
Sentimentalität, der am Schluß noch hineingenommen wird, indem die Geschädigte,
eine alte Frau, hilflos-larmoyant den Malachow und das Publikum beschwört,
verengt den Konflikt auf Malachow und die Geschädigte (Else Wolz), macht ihn
klein und privat. Aufgerissen aber und durch die Inszenierung auch akzeptiert
ist eine Konsequenz, die in dem Gedanken Malachows kulminiert: >Umerziehen
ist nutzlos, wenn alles so weitergeht wie früher!< Erziehen, das lehrte uns
Karl Marx, ist ja stets auch Erziehung der Erzieher, und zwar im praktischen Prozeß
des Veränderns der Umstände.
Weder Autor noch Regie also geben den Malachow
auf. Auch in ihm stecken gesunden Keime. Bei Malachow sind sie verschüttet. Uwe
Steinbruch, der Darsteller des Andrej, weiß gerade diesen Widerspruch der Figur
zu verlebendigen. Da ist viel borstige Widersetzlichkeit, verhärtete
Verbitterung, aber immer wieder, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, auch
gesundes, herzhaftes Jungenlachen, das aus lebensdurstiger Seele kommt. Das ist
genau und differenziert gesetzt, das führt die Figur in die Sympathie der
Zuschauer und liefert sie zugleich ihrer Kritik aus.
Katrin Stephan, sensibel bis in die Sprache, findet
überzeugend unterschiedliche Haltungen für die zwischen Ehemann und Sohn lavierende
Mutter Sinaida. Das ist eine empfindsame, warmherzige Frau, letztlich nicht
kräftig genug, um dem Sohn moralische Stütze und Halt zu sein. Vater Roman in
der Gestaltung von Wilfried Kretschmer ist knapp und deftig in der Diktion, ein
Mann, der offensichtlich nicht viel Energie aufs Nachdenken über
zwischenmenschliche, gar verständnisvolle Beziehungen verschwendet. Dem
Journalisten gibt Egon Brennecke vor allem die sachliche Anteilnahme des von
berufswegen Recherchierenden. Vielleicht stünde der Figur gut zu Gesicht, nähme
sie den Text nicht zu flott, zumindest deutlicher und gegliederter in den
Bewertungen. In weiteren Rollen u.a. Ursula Figelius (Schuldirektorin), Joachim
Uhlitzsch (Bonifazi), Armin Roder (Offizier) und Gerd Micheel (Psychologe).
Andrejs Mitschüler geben Studenten der Schauspielschule Rostock. Gespielt wird
in der nüchtern-praktikablen Ausstattung Falk von Wangelins und Klaus Webers im
überfüllten Ateliertheater.
Theater
der Zeit, 1/1979