„Maß für Maß“ von Shakespeare an den Kammerspielen des Deutschen
Theaters Berlin, Regie Uwe Eric Laufenberg
Arrogantes Spiel mit den Untertanen
Nachdem am Berliner Maxim Gorki Theater jüngst Goethes »Clavigo« als billige Seifenoper präsentiert wurde, serviert das Deutsche Theater eine Inszenierung der Shakespeare-Komödie »Maß für Maß«, die den klassischen Engländer wie einen Ghostwriter fürs Fernsehen behandelt. Das Klischee von der gängigen Action-Story, möglichst im Hochsicherheits-Gefängnis und im Bordell spielend, wird voll bedient. Und es kümmert die Macher offenbar wenig, daß die geistige Welt, in der Shakespeare seine Geschichte abhandelt, wie dessen altertümelnde Sprache (trotz neuer Übersetzung von Reinhard Palm) sich nachhaltig gegen die triviale Natürlichkeit sperren, mit der die Figuren in moderner bürgerlicher Kostümierung vorgeführt werden.
Theater heute? Kaum Bemühen, in Pflege eigener großer Tradition einem Werk originär und originell nachzuspüren, sondern genügsames Ausstellen der äußerlichen, in die Gegenwart transportierten Effekte. Man wird sich mit diesem desolaten Realismus abfinden müssen. Zuständig als Spielleiter ist Uwe Eric Laufenberg, geführt im Spielzeit-Heft 97/98 des Gorki Theaters als Schauspieler, tätig dort als Regisseur.
Hier offeriert er Shakespeares
»finstere« Komödie als skurrilen Versuch eines Herzogs, im korrupten Wien
unserer Tage ein bißchen mit der absoluten Macht zu spielen. Um die
Zeitschizophrenie sollte man sich nicht scheren! Wem das gelingt, kann
möglicherweise Gefallen fiden. Herzog Vincentio also, der Herrscher, hat
bisher in freiheitlicher Anwandlung das Recht sehr großzügig ausgelegt. Das
haben böse Buben, Mädchenschänder und Hurensöhne, ausgenutzt. Nun versucht er,
mit einem raffinierten Trick sich neue Gunst beim Volke zu erschleichen und
eine neuerliche Verschärfung der Rechtsprechung zu erreichen. Weshalb er den
ahnungslosen Angelo als seinen Stellvertreter einsetzt, einen ehrgeizigen, in
der Beamten-Hierarchie bereits weit aufgestiegenen jungen Mann. Der Vize soll's
richten.
Das ist der Punkt, wo sich Shakespeare behauptet.
Der Dichter wollte augenscheinlich einen strengen Puritaner komisch erledigen,
der schon bei der ersten besten Gelegenheit seinen ideologischen Vorsätzen ade
sagt und lieber seinen Sinnen folgt als einem weltfremden Dogma. Welchen
Widerspruch mir Edgar Selge, Gast aus München, glaubhaft vorführt. Da packt ein
cleverer Karrierist seine Chance, regiert beflissen absolut und verurteilt den
jungen Lord Claudio (Guntram Brattia) zum Tode, weil der unverheiratet schwängerte
- und verliebt sich prompt in die Schwester des Verurteilten, eine Nonne in
spe, als die herbeieilt, für ihren Bruder um Gnade zu flehen. Heiße Leidenschaft
erfaßt den kühlen Angelo zwar nicht, doch immerhin so viel, daß er schon mal in
seinem Amtszimmer fast zur Vergewaltigung schreitet, obwohl die züchtige
Isabella (Jacqueline Macaulay) ihm kaum Anlaß gab. Edgar Selge agiert mit trockener
Ratio, gar nicht vordergründig als scheinheiliger Puritaner, sondern als ein
Staatsdiener, der naiv an das Recht glaubt und von seinen Gefühlen überrascht
wird.
Der Herzog ist bei Jörg Gudzuhn zunächst ein
vornehm arroganter Fürst, wirklich erstklassiger Hochadel sozusagen, ganz von
der zähen Struktur dieser Kaste, die offenbar alle Zeiten zu überleben vermag,
und jederzeit fit ist für die kleinen Spielchen mit den Untertanen. Kokett
nimmt er sich das Spitzbärtchen ab, um als Mönch verkleidet immer dicht dran
sein zu können an seiner Fallstudie, und wird auch ohne den Bart wieder als Herzog
anerkannt. Als solcher regiert er erneut unumschränkt und regelt auch den »Fall
Isabella« zu seinen Gunsten, nicht ohne den Charme, wie ihn die einfältige
Masse liebt.
Einer allerdings ist da noch, der aufmüpfig
mehr als eine Lippe riskiert: »Dandy« Lucio, gespielt von Dieter Mann. Berückend,
wie nuanciert dieser Schauspieler den aufgeklärten Bürger hinstellt, der des
Herzogs Ränkespiel durchschaut und sich unerschrocken gegen ihn engagiert. So
zwiespältig also das Angebot des Regisseurs, so versöhnlich die Leistungen der
Akteure. Schauspielerische Kabinettstückchen. Zu nennen unbedingt noch: Margit
Bendokat, Michael Gerber, Udo Kroschwald, Horst Lebinsky. Und Rolf Ludwig als
trunkener Barnadino, der sich seiner Hinrichtung verweigert. Szenenbeifall.
Neues
Deutschland, 17./18. Januar 1998