„Die Maßnahme“ von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble, Regie Klaus Emmerich

 

 

 

Was eigentlich ist ein Mensch?

 

Am Vorabend von Bertolt Brechts 100. Geburtstag, nach über vierzigjährigem Verbot öffentlicher Aufführungen durch den Dichter und seine Erben, bringt das Berliner Ensemble in Zusammenarbeit mit den 47. Berliner Festwochen und dem Bayerischen Staatsschauspiel das »erzkommunistische« Lehrstück »Die Maßnahme« (Musik Hanns Eisler). Da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich. Wo soll das hinführen? Zitieren wir mal schnell den Dichter! »Versuche«, schrieb er, »aus der >Maßnahme< Rezepte für politisches Handeln zu entnehmen«, sollten »ohne Kenntnis des Abc des dialektischen Materialismus nicht unternommen werden.« Welch Abc bekanntlich gründlich durcheinander geraten ist. Auch die Zeiten sind sehr andere. Was einst für die revolutionäre Arbeiterklasse gehalten wurde, ist auseinanderdividiert in clevere Kleinaktionäre, konforme Arbeitnehmer und geduldige Arbeitslose. Und der politische Lehrwert, nach dem Brecht 1931 bei der Uraufführung fragte, ist out.

Umso erregender, daß die hohe künstlerische Qualität der Inszenierung am BE dazu provoziert, neu nachzusinnen. Ich meine, was die jungen Intellektuellen Bertolt Brecht, Slatan Dudow und Hanns Eisler vorschlugen, um den Arbeitern zu helfen, sich gegen den Faschismus zu formieren, konnte nur abstrakt sein. Damals wie heute gilt Georg Büchners Erkenntnis vom Schicksal des Revolutionärs: In einer Revolution ist der Einzelne nur Schaum auf der Welle. Was also hätten die jungen Genossen im fernen China tun sollen, als sich einer von ihnen vom aktuellen Klassenkampf dazu hinreißen ließ, die eigene Entscheidung über den kollektiven Beschluß zu stellen und damit die ganze Bewegung gefährdete? Hätte es einen Ausweg gegeben? Im Leben gewiß.

Aber Brecht ging es um dramatische Zuspitzung. Er gestaltete komprimiert eine mögliche tragische Verstrickung. Hanns Eisler, nicht in simplem Agitprop-Stil, sondern modern überkommene musikalische Mittel des Oratoriums nutzend, in der Chorbehandlung polyphon, rezitativisch oder melodramatisch verfahrend, gab einen zupackenden Drive vor. Regisseur Klaus Emmerich gelang es, die tiefe menschliche "Problematik einfühlsam zu erfassen. Wie vom Dichter gewünscht, bot er die Vorführung »einfach und nüchtern«. Zugleich ironisierte er bestimmte Vorgänge behutsam. Das ergab mit der Musik, vom Kammerensemble Neue Musik Berlin, unter der Leitung von Roland Kluttig, und von Mitgliedern des Konzertchores der Deutschen Staatsoper Berlin vorgetragen, eine gedanklich dichte, emotional berührende Darbietung.

Die vier Agitatoren sind doppelt besetzt. In Aktion sind vier junge Darsteller. Mira Partecke, Georg Bonn, Achmed Bürger und Thomas Wendrich verkörpern eine Generation, die noch voll unverbrauchter Hoffnung ist. Für sie gilt die Überzeugung, daß »diese tötende Welt nur mit Gewalt zu ändern ist« (Brecht). Sie sprechen einfach, schlicht, sehr empfindsam. Gleichzeitig sitzen da aber auch vier »alte« Darsteller. Christine Gloger, Stefan Lisewski, Hans-Peter Reinecke und Axel Werner verkörpern die Generation, die alle Hoffnung hat fahren lassen, weil sie erleben mußte, wie ihr ehrliches Engagement von dogmatischer Borniertheit mißbraucht und diskreditiert wurde. Sie sprechen müde, skeptisch, mißmutig.

Scheinbar unbeteiligt, als Künstler sozusagen erhaben über den Dingen stehend, kommentiert der Tenor. Zu erleben ist Götz Schulte, Schauspieler vom BE, hier - an Ernst Busch erinnernd - ein gestisch hervorragender Sänger. Wie er, herablassend, smarte Arroganz hervorkehrend, den eigentlich zu verschmähenden Sachverhalt dennoch, weil es ja halt um Kunst geht, engagiert vorträgt, ist großartig. Glanzvoll der »Song des Händlers«, den ein Agitator scheu mit der Frage unterbricht, was eigentlich ein Mensch sei. Gipfelpunkt des Abends, wenn die jungen Agitatoren dazu auffordern, über einen Ausweg, über eine bessere Möglichkeit nachzudenken, als ihren Mitkämpfer zu töten. Durch eine ostentative Pause wird der Zuschauer gleichsam mit in die Entscheidung hineingesogen. Erlösender Beifall aus dem Publikum legitimiert die Agitatoren, ihren schwerwiegenden Schritt zu tun. Zur guten Kommunikation trägt bei, daß die Argumente des Kontrollchores simultan eingeblendet werden. Den jungen Genossen abwechselnd von einem der vier jungen Spieler (ausgezeichnet Mira Partecke) geben zu lassen, mag irritieren. Insgesamt eine geradezu klassisch verfremdete, gar nicht destruktive, sondern produktive Aufführung. Langanhaltender Beifall.

 

 

Neues Deutschland, 15. September 1997