„Der Menschenfeind“ von Molière am Deutschen Theater
Berlin, Regie Jürgen Gosch
Wie weit muss man sich anpassen?
Freund Philinte, ein Mann in gutbürgerlichem Outfit, rät
verbindlich, »sich unseren Zeiten anzupassen«. Man könnte fast glauben, da
spricht einer aus der unmittelbaren Gegenwart. Doch wir befinden uns im
Deutschen Theater in Berlin und in der Charakter-Komödie »Der Menschenfeind«
von Molière, Jahrgang 1622 ...
Alceste, dem der konformistische Rat erteilt wird, widerspricht so heftig wie nachhaltig. Der lautere Bürgersmann erregt sich zum Beispiel über die Unsitte, einem Menschen zu hofieren, den die ganze Welt als »Schwein« kennt. Trotzig und beharrlich setzt Alceste auf seine freilich schon im 17. Jahrhundert illusorische Überzeugung, letztlich obsiege die Wahrheit, und Recht bleibe Recht. So hitzköpfig er argumentiert, seiner Sache sicher scheint er nicht zu sein. Als ihn Oronte, ein einflußreicher Herr, mit scheinheiligen Komplimenten hartnäckig bedrängt, rückt er aus Verlegenheit auf die äußerste Ecke seines Stuhles.
Wie weit muß man sich anpassen? Kann man sich gesellschaftlicher Konvention
überhaupt entziehen? Heuchelei statt Aufrichtigkeit. Wer sich opportun verhält,
kommt besser voran. Das wußte schon Molière. Der Großmeister sozialer Charakterkomödie
spielt am Typ Alceste durch, wie es einem ergehen kann, der offen Widerstand
leistet und nachhaltig für Wahrheit ficht. Dem guten Mann bleibt letztlich
nichts anderes übrig, denn als verbitterter Menschenfeind von der Bühne
abzutreten. Freund Philinte eilt ihm nach. Vielleicht, daß er ihn, nachdem das
Exempel vorgeführt ist, hinter der Kulisse noch umstimmen kann ...
Das in der Übersetzung von F.S. Bierling reichlich geschwätzige Stück,
in dem die desavouierende Grimmigkeit der Fabel in allgemeinem Salon-Geplapper
untergeht, war 1979 in einer Bearbeitung von Hans Magnus Enzensberger in die
bundesdeutsche »Upper Middle-Class« versetzt, aber durch vulgären Party-Jargon
trivialisiert worden. Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens holen jetzt mit ihrer
Neu-Übersetzung in Form einer munteren, eingängigen Vers-Bearbeitung das Stück
merklich in die Gegenwart, ohne aufdringlich aktuell und inhaltlich platt zu
werden. Die Figuren scheinen zeitlos gültig und bleiben dennoch im Molièrschen
Kolorit seiner »schwarzen« Komödien.
Bühnenbildner Johannes Schütz kommt mit Tisch und Stühlen eines
vornehmen Salons aus, links vorn an die Rampe und auf einen großen, mattgrünen
Bodenbelag gestellt, der im Hintergrund zum Horizont hochgezogen und mit einem
Teppich geschmückt ist. Auf dieser nüchtern-aparten, Konzentration fördernden
Szene handelt Jürgen Gosch, dieser bewährte Regisseur für subtile Vorgänge, den
Fall Alceste schnörkellos und in Sachen menschlicher Regungen äußerst genau ab.
In zeitnahen Kostümen wird zügig, pointiert und unaffektiert phantasievoll gespielt.
Götz Schubert behauptet Alcestes kühnen Anspruch in ganzer Widersprüchlichkeit.
Bei diesem stets wesentlichen Charakterdarsteller, der mit Geste wie Stimme
plastisch erzählt, avanciert die Gestalt nicht zum Helden, wird aber auch nicht
denunziert. Der Zuschauer erlebt, wie sich ein Mensch trotz höchst ehrenwerter
Absicht zunehmend verrennt, sich gegenüber der Mitwelt blockiert und ohne Fähigkeit
zum Kompromiß kläglich scheitert. Das wird besonders sinnfällig in seiner Liebe
zur kapriziösen Celimene, einer Expertin für Klatsch und galantes höfisches
Spiel. Die intrigante Konkurrentin Arsinoe (Cornelia Heyse) trickst sie gnadenlos
aus.
Celimene, von der grazilen Claudia Geisler in schöner emanzipatorischer Selbstverständlichkeit
gezeigt, geht auf eine Weise offenherzig mit der Wahrheit um, die Liebhaber
nicht vertragen können. Auch Alceste ist da störanfällig. Was er für sich in
Anspruch nimmt, billigt er seiner Geliebten nicht zu. Höchst fatal für den
Mann, auf dessen Seite man noch eben glaubte, sich schlagen zu müssen. Wenn die
junge Frau seinen Heiratsantrag ablehnt, weil sie ihm nicht in die Einsamkeit
völliger sozialer Isolierung folgen will, kann man sie gut verstehen.
Glücklicher Gewinner, zumindest was seine Zuneigung gegenüber der
bescheidenen, ehrlichen Elifante (Petra Hartung) betrifft, ist der Taktierer
Philinte, dem Bernd Stempel mit viel Spaß an freundlich-ironischer Brechung
sympathische Züge verleiht. Höhepunkt ist dessen bildhafte Schilderung des
Gerichtsprozesses, in den der sture Alceste verwickelt ist.
Daß die tragikomischen Querelen ausgerechnet von einem
Sonett ausgelöst werden, das Alceste partout nicht gut finden kann, weswegen
der ehrgeizige Oronte (Stephan Grossmann) vor den Kadi zieht, erhöht den
satirischen Reiz des hintergründig politischen Abends.
Neues Deutschland, 1. Juli 1999