„Die Möwe“ von Anton Tschechow an der Volksbühne Berlin,
Regie Ivan Staney
Nina schlabbert Blut
Bislang kommunizierte man im Theater vorwiegend über das
Wort. Jetzt gibt's auf der Drehbühne der Berliner Volksbühne, wo das Publikum
sitzt und die Spieler auf einem Podest agieren, eine neue Variante. Trepljow,
der unglücklich Liebende in Tschechows „Möwe", zerklopft sein Haupt, das
eine Melone ist, und schmettert deren Teile ins Publikum. Ein Getroffener
schreit „Du Sau!" und wirft dem Herrn seinen Bregen zurück. Wenig später
reißt sich die trostlos liebende Mascha ihr Herz aus der Brust, worauf aus dem
Publikum das Stöhnen kommt: „Nicht schon wieder!" Aber Mascha folgt ihrem
Regisseur, zerstückelt ihr Herz, ein prächtiges Stück Leber, attackiert damit
Trepljow, trifft aber natürlich vorwiegend die weißen Blusen der Kritik in der
ersten Reihe. So nimmt man denn Eindrücke neuer Art mit nach Hause.
Gespielt wird eine Übersetzung von Ginka und Heiner Müller, die ohnehin
garantiert, daß Tschechows Lebensschmerz nicht auch noch sentimental
ausgebadet wird. Das ließe sich heutzutage realistisch nur noch machen, wenn hochsensibilisierte,
bis in die Fingerspitzen beseelte Schauspieler ans Werk gingen. Die Neugier
auf derlei Schauspielkunst wird wiederkommen, aber vorerst begnügt man sich damit,
Tschechows Figuren als Karikaturen zu demonstrieren. Was in der Regie von Ivan
Staney nun allerdings ganz respektabel geschieht.
Der Dichter Anton Pawlowitsch (Grigori Kofman), der sich
zum Auftakt der einzelnen Akte immer wieder bemüht, den ursprünglichen Geist
des Werkes zu beschwören, wird vom Lehrer Medwedenko (Torsten Ranft), der
mitunter rebellisch mit einem Gewehr herumhantiert, mehrmals respektlos von
der Bühne getragen. Um Platz zu machen für hiesige Sicht auf diese 1896 geschriebene
Komödie. Heute mag man die Befindlichkeiten derer von damals nicht so ernst nehmen,
und das Komische daran eher lächerlich. Trepljow, der junge Mann mit bizarrem
Hang zu Dichtkunst und Theater, ist bei Bruno Cathomas ein rechter Hanswurst. Nina,
das junge Mädchen aus reichem Hause, mit Sehnsucht nach der Schauspielerei, ist
bei Jeanette Spassowa ein zickiges Jungfräulein aus einem Mädchen-Pensionat.
Arkadina, die Mutter Trepljows und reiche Schauspielerin, wird von Annekäthrin
Bürger als attraktive Mondäne auf Kothurnen vorgeführt; auch Trigorin, ihr Geliebter,
der große Schriftsteller (Horst Westphal), agiert als souveräner Snob auf
goldenen Kothurnen. Meral Yüzgülec mimt und pantomimt eine vergrämte Mascha.
In possierlichen Figuren-Studien Rosemarie Bärhold (Polina) und Harry Merkel
(Sorin).
Vor dem 4. Akt wird ausdrücklich mitgeteilt, es seien 100 Jahre
vergangen, Chruschtschow, Breshnew, Gorbatschow seien abgetreten, die Berliner
Mauer sei gefallen und Tschechow wolle nie wieder nach Moskau, sondern nach
Deutschland. Bei der Gelegenheit wird die Bühne gedreht, auf eine Leinwand ausgerichtet,
wo per Film just ein Flugzeug landet, dem die Truppe Bonney M entsteigt, die
sodann vor dem Kreml fröhlich ihren „Rasputin" donnert. Zurückgedreht
ins wahre Bühnenleben, sieht man, daß Trepljow sich nicht erschossen hat,
sondern inzwischen ein hochgelobter, mit vielen Preisen geehrter Dichter
geworden ist. Arkadina und Trigorin leben nach der Devise: „Wer spricht von
Siegen? Überstehen ist alles!" Und Nina, gebeutelt, desillusioniert, empfindet
die Welt als zu alt und das Dasein als eine Scheiße. Als ihr geliebter Trepljow
an Herzbluten zusammenbricht, stürzt sie sich über ihn und schlabbert an ihm
herum wie ein Vampir. Das hatte sozusagen gerade noch gefehlt! Oder soll's
Symbol sein für den Irrsinn des Blutvergießens im ehemaligen Sowjetland?
Irgendwie scheint das Theater zur Zeit der Gefangene seiner
eigenen abstrusen Mittel zu sein. Die Premieren-Zuschauer applaudierten mäßig.
Neues Deutschland, 24. /25. Juni 1995