„Die Mutter“ von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble, Regie Manfred Wekwerth und Joachim Tenschert

 

 

 

Rationale Kraft und poetische Frische Brechtscher Gedanken

 

Bertolt Brechts Stück „Die Mutter" ist wieder im Spielplan des Berliner Ensembles. Manfred Wekwerth und Joachim Tenschert inszenierten das proletarische Lehrstück, 1931 unter Mitarbeit von Slatan Dudow, Hanns Eisler und Günther Weisenborn nach Gorkis Roman entstanden, als Beitrag zur Brecht-Ehrung 1988.

Wirksam wie ehedem ist des Dichters revolutionäre Romantik, dessen tiefe, parteinehmende Überzeugung vom gerechten und letztlich siegreichen Befreiungskampf der Arbeiterklasse. Überzeugender denn je ist das Leben der Revolutionärin Pelagea Wlassowa aus Twer, gewidmet den „Wlassowas aller Länder", ein anrührendes, bewegendes Symbol für das unaufhaltsame Sich-Auf-richten der Unterdrückten und Ausgebeuteten dieser Erde.

Insofern wäre eine mit Film, Musik und Fotomontagen arbeitende theatralische Collage denkbar gewesen, die heutige Klassenauseinandersetzungen aus aller Welt ins Bild holt. Doch die „Hausmittel" Erwin Piscators, des anderen politischen Agitproptheater-Machers vor 1933, waren nicht die Brechts. Sie standen zur Wahl, hätten aber wohl eher im Wege gestanden.

Die Regisseure setzten auf die rationale Kraft des Textes, auf die unverbrauchte Frische Brechtscher Argumente. Sie führen das erwachende Denken und das schließlich revolutionäre Handeln der Pelagea Wlassowa in betonter Einfachheit vor, geradlinig, ganz ohne Schnörkel. Sie behalten das Spielprinzip epischen Darlegens bei, suchen gleichzeitig auffällig die dramatische Substanz des Stückes und montieren deutlich einen zügigen Ablauf. Die Szene mit der Hausbesitzerin wurde gestrichen, auch das eine oder andere Lied. Ansonsten bringen sie die Songs so, daß sie sich nicht belehrend vordrängen, daß sie nicht unterbrechen, sondern verbinden.

Die spürbar angestrebte moderne dialektische Spielweise gelingt freilich nicht durchgängig. Indem die Regie szenische Texte und Songs oft verschmilzt — was im Sinne dramatischen Theaters durchaus denkbar ist —, opfert sie die Möglichkeit des An- und Gegeneinandersetzens, den von Brecht so behüteten Wechsel, der es ermöglicht, mit dem Gedanken dazwischenzukommen. Diesen Eindruck „gesamtkunstwerklichen Einschmelzens" bestärkt auch das in der Mittelloge sichtbar gefällig plazierte und unter Rainer Böhm recht laut musizierende Orchester (Musik: Hanns Eisler). Es „dämpft" zwar den Lehrstück-Charakter, verdeckt aber durch ungestisches „magisches" Musizieren etwas von der Schlankheit der Gedanken.

Bühnenbildner Matthias Stein hatte da eine sichtbar glücklichere Hand. Er schuf eine vieldimensionale Szenerie, die zunächst einmal den elementaren Diskussionen der Arbeiter vorzüglich Hintergrund und Spielraum gibt. Das Geschehen um Mutter Pelagea, Sohn Pa-wel und die Brüder Lapkin spielt sich ab unter den Traversen eines Eisenbahnviadukts, dessen Schienen sich in der Ferne verlieren. Das Bauwerk ist gefügt aus weißen, leicht durchsichtigen Leinwänden, wie Soffitten hintereinander gehängt. So vermitteln sich zarte Leichtigkeit, assoziiert sich umhüllende Geborgenheit.

Basis und Ausgangspunkt aber bleibt die Vorbühne. Dort markieren wenige Möbel und Requisiten die ärmliche Stube der Wlassowa oder das Wohnzimmer des Lehrers Lapkin. Ein Bühnenbild, das zu aufgeschlossenem Umgang mit einem längst vertrauten Menschen einlädt: der Mutter.

Renate Richter stellt eine aufgeweckte, jugendlich hurtige Wlassowa her, die die Macht ihrer List entdeckt und diese, was zunächst nur private Geschicklichkeit ist, zunehmend bewußt als ein politisches Mittel gebraucht.

Anfangs hält sie demütig Zwiesprache mit dem Ikonenbild an der Wand, wendet sie sich nur scheu an die Zuschauer. Sprachlos verfolgt sie das konspirative Treffen der Arbeiter bei ihrem Sohn, erschrocken begehrt sie auf gegen den höhnischen Kommissar (Peter Hladik). Drollig-gewitzt verschafft sie sich dann Einlaß in die Fabrik. Nach ihrer Aktion debattiert sie ausforschend klug mit Pawels Genossen (Hans-Peter Reinecke, Daniela Hoffmann, Klaus Hecke, Michael Kind). Beim Bericht vom 1. Mai verharrt sie zunächst hinter ihrem Sohn und Smilgin (Stefan Lisewski), dann tritt sie vor, beschwörend, vertrauensvoll.

In der Küche des Lehrers Lapkin, vor den Nachbarn (Doris Thalmer, Johannes Conrad), spricht sie mit innerer, fester Kraft das Lob des Kommunismus. Beim Lernen des Lesens und des Schreibens entlockt sie dem Lehrer mit Schlagfertigkeit Wissen und Erfahrung. Im Disput mit den Brüdern Lapkin — auch während des Besuchs ihres Sohnes im Gefängnis — ist sie bereits eine ihre politische Klugheit gezielt einsetzende Bolschewikin. Auf dem Dorfe manövriert sie unauffällig, aber geschickt die Streikbrecher (Erhard Köster, Ralf Kober) aus. Revolutionäre Aktivität hat jetzt die kleine, schmächtige, aber zähe Person ergriffen. Eindringlich warnt der Schrei der Frau gegen den Krieg, gegen die „ungeheure Finsternis". Hier hat die Inszenierung ihren klar akzentuierten, aktuellen Höhepunkt.

Die flinke Behendigkeit, mit der diese Mutter rundum zu Werke geht, der freundlich-komische Eifer auch, mit dem sie sich engagiert, haben leider Momente äußerlicher Skizzierung, die der Gestalt anrührende Tiefe letztlich versagen. Renate Richters Wlassowa überzeugt, wenn sie behutsam-bestimmt argumentiert, wenn sie in der erkennenden und bekennenden Haltung der Mutter ruhig und sachlich darlegt.

Ausgezeichnet ist Michael Gerber als Lehrer Lapkin. Ergötzend, wie sich dieser Zweifler ereifert, wie er sich ins Unvermeidliche schickt, wie er sich, halbherzig zunächst, teilnahmsvoll dann doch für die Mutter einsetzt, wie er zunehmend Zutrauen bekommt zu seinen eigenen, durchaus progressiven Überzeugungen. Beeindruckend auch Manuel Soubeyrand als Sohn Pawel — ein stiller, bescheidener Junge, der zum standhaften Revolutionär reift.

Mit seiner bewährten, redliche Herzlichkeit ausstrahlenden Art gibt Hans-Peter Reinecke den umsichtigen, selbstbewussten Kommunisten Semjon Lapkin; Martin Seiferts Jefimowitsch hat einen sprühenden, etwas demagogischen Zorn als revoltierender, zum Streik aufrufender Gutsmetzger. Hervorragend Annemone Haase in ihrem kleinen Part als Kriegerwitwe in der Schlange der Bürgersfrauen und Dienstmädchen vor der Kupfersammelstelle.

Manfred Wekwerth und Joachim Tenschert machten politisches Theater, offen, ästhetisch profiliert. So erweist sich das Stück als gültig und nützlich auch heute in der Auseinandersetzung mit Kriegsdrohung und Antikommunismius. Das Premierenpublikum dankte mit Bravorufen und herzlichem Beifall.

 

 

Neues Deutschland, 12. Februar 1988