„Mutters Tag“ von Christoph Hein im Berliner Ensemble uraufgeführt, Regie Claus Peymann

 

 

 

Der Schoß ist fruchtbar noch

 

Bekennendes Theater ist selten geworden. Jetzt setzt das Berliner Ensemble Zeichen. Jüngst mit Ernst Jandls „Humanisten“ in der Inszenierung von Philip Tiedemann. Nun mit Bertolt Brechts „Jüdischer Frau“ aus „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ in der Regie von George Tabori und mit einer Uraufführung, mit „Mutters Tag“ von Christoph Hein in der Regie von Claus Peymann. Das Ensemble erfüllt seine Verpflichtung, in jedem Jahr an den Beginn der Deportation der Berliner Juden 1941 zu erinnern. Es tut gut daran. Keine der poetischen Wahrheiten des Bertolt Brecht ist aktueller denn jene über den Faschismus in Deutschland, die das lautet, der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.

 

Der Abend erhält seine besondere Weihe durch die Mitwirkung des greisen George Tabori, des schon zu Lebzeiten legendären Theaterdichters, Regisseurs und Schauspielers. Er gibt den 78jährigen Jakob Deutschmann in „Mutters Tag“, einen jüdischen Schriftsteller, der seine Mutter in Auschwitz verloren hat. Wer kann einen solchen Mann authentischer darstellen als George Tabori, dem die deutschen Faschisten nicht nur den Vater mordeten.

 

Da sitzt im Jahre 2000 ein ungekämmter, ungepflegter alter Herr an einem unaufgeräumten Tisch und arbeitet still besessen an seiner Schreibmaschine. Tief beugt er sich übers Papier, wenn er sich eine Notiz macht. Zielsicher greift er zum Eierbecher, um ein rohes Ei zu schlürfen. Die Frau im Raum, die hartnäckig auf ihn einredet, nimmt er scheinbar nicht wahr. Es ist seine 41 Jahre alte Mutter, stellt sich heraus. Sie ist in Auschwitz umgekommen. Und jetzt hält der Sohn irgendwie stumme, verhaltene Zwiesprache mit ihr. Im unaufwendigen, zurückhaltenden Spiel Taboris ist das von anrührender Unmittelbarkeit. Still und gelassen nimmt er hin, dass die Mutter einen bösartigen anonymen Anruf und einen Drohbrief nicht einzuschätzen versteht. In ihrer jenseitigen Geborgenheit, aus der sie gekommen ist, glaubt sie an ein geläutertes, an ein besseres Deutschland. Dennoch mahnt sie ihren Sohn, nicht im Erdgeschoß wohnen zu bleiben. Und tatsächlich, der Sohn folgt der Eingebung, ruft seinen Vermieter an, um einen Umzug in den zweiten Stock einzuleiten. Denn: „Glasscherben bringen in Deutschland kein Glück, hat Mama mir immer eingeschärft.“

 

Claus Peymann hat Ursula Höpfner besetzt, die die Mutter mit aufgeräumter Herzlichkeit ausstattet. Unruhig läuft sie auf und ab, macht ihrem Sohn Vorhaltungen, nimmt sie zurück; auch Erinnerungen kramt sie aus, Erlebnisse auf Hiddensee, wo plötzlich nur noch blonde Frauen Urlaub machten. Sie tut so, als habe sie all die bedrückenden, selbst die schrecklichen Ereignisse inzwischen kompensieren können. Aber tiefe Sorge ist geblieben, ob es richtig war, dass ihr Sohn, ein Schriftsteller, nach Deutschland zurückgekehrt ist.

 

Christoph Heins Text bekommt besondere Brisanz durch die vorangestellte Szene Brechts, eine notgedrungene, keineswegs freiwillige Flucht einer jüdischen Frau 1935 aus Deutschland. Helene Weigel damals hatte den bitteren, tragischen Abschied herb und un-sentimental gespielt. Ihre Jüdin hatte sich innerlich von der Heimat getrennt, wickelte sachlich noch nötige Gespräche ab und stand seelisch gefasst auch die letzte Begegnung mit ihrem Mann durch. Therese Affolter heute, weicher, gefühlvoller, anfangs noch immer mit ein wenig Hoffnung im Herzen, dann zunehmend verzagend, lässt all die Emotionen empfinden, die eine solche Trennung einschließt. Wenn ihr redlicher, zwar von ihrem Entschluß betroffener, dann aber irgendwie erleichterter Gatte sie zum letzten Mal umarmt, ist das aufrichtig und ein wenig geheuchelt zugleich. Jürgen Holtz spielt das sehr glaubwürdig.

 

Der herzliche, lang anhaltende Beifall des Publikums, empfand ich, war auch Demonstration.

 

 

 

Neues Deutschland, 21./22. Oktober 2000