„Weiningers Nacht“ von Joshua Sobol im Berliner Schlosspark-Theater, Regie Michael Schottenberg

 

 

Ein irrer Phantast

 

Aus dem Zuschauerraum des Berliner Schloßpark Theaters stürzt ein junger Mann auf die Bühne. Augenscheinlich lodert in ihm ein verzehrendes Feuer. Wild mit einer Pistole fuchtelnd verkündet er dem Publikum, er werde hier seine letzte Nacht verbringen. Schon mal zur Probe knallt er einen Schuß in den Schnürboden. Ein bizarres Spiel zwischen Realität, Erinnerung und Fiktion nimmt seinen Lauf: „Weiningers Nacht" von Joshua Sobol.

Der 1939 in Tel Aviv geborene und dort lebende Dramatiker, erfolgreich mit über zwanzig Stücken, in Berlin bekannt geworden 1992 mit „Ghetto" und 1994 mit „Schneider und Schuster" (jeweils am Maxim Gorki Theater), hat ein begnadetes Talent, tragischem Geschehen komische Seiten abzugewinnen, schwere Dinge leicht daherzusagen. Dennoch war nicht von vornherein gewiß, ob der Tod des 23jährigen jüdischen Selbstmörders Otto Weininger, der sich in der Nacht vom 3. zum 4. Oktober 1903 im Sterbehaus Beethovens in Wien das Leben nahm, von allgemeinem, noch gar von komischem Interesse sein könnte. Die sorgfältige, komödisch zugreifende Inszenierung Michael Schottenbergs allerdings überzeugt, vor allem die ästhetische Ausgewogenheit, mit der der intelligente Regisseur und Schauspieler im gediegenen Bühnenbild Tina Carstens den Aberwitz des jungen Weininger vorführt.

Otto, ein offenbar frühreifer Knabe, aufgewachsen in einem frustrierenden Kleinbürger-Elternhaus - der Vater Goldschmied und Wagner-Fan, die Mutter gebärfreudig und bigott -, bleibt in der Pubertät stecken. Der angehende Philosoph hat Kummer mit seinem Geschlecht, hält sich für bisexuell, spricht die Frauen dafür schuldig. Und er hat Probleme mit seiner Identität als Jude. Weshalb er sich evangelisch taufen läßt. Seine ins Absolute gesteigerten absurden Ideen faßt er zusammen in seinem Buch „Geschlecht und Charakter", in dem er der Frau psychische und sittliche Minderwertigkeit zu unterstellen versucht. Ein irrer Phantast, dieser Otto, der Publizität im nachhinein nicht verdient, auch nicht auf dem Theater. Wenn da nicht das Exemplarische seines Falles wäre: das menschlich Abgründige doktrinärer Ideologie. Autor Sobol gelingt es, deren Gefährlichkeit am Beispiel Weiningers zu offenbaren und sie zugleich komisch zu erledigen.

Den Selbstmörder verfremdet der Italiener Marcello de Nardo mit hinreißender Verve in einem coolen Balance-Akt zwischen Distanzierung und Einfühlung. Ein drahtiger, schlanker Kerl mit Nickelbrille, glatt gekämmtem Haar, schmalem Oberlippenbart und eckig-steifen Bewegungen steigert sich borniert in seinen Lebensanspruch, wird klein und hilflos in seiner Lebensnot. Bevor er zur Tat schreitet - die ihm übrigens sein anderes Ich abnimmt, sein Doppelgänger (Daniela Gaets) -, überfallen ihn Erinnerungen, Daten seines Lebens (noch einmal durchgespielt). Verklemmt erwehrt er sich der naiven, hingebungsvollen Zuneigung Claras (Meriam Abbas). Ebenso verklemmt wirbt er um die Liebe seines Freundes Berger (Thomas Kamper). Mit ihnen debattiert er, sich bis zur Hysterie steigernd, auch im Disput mit einem älteren Freund, seinem liberalen Lehrer Tietz (Michael Schottenberg). Ewiges Reiz-Thema: Zionismus und Antisemitismus. Vater Leopold (Georges Kern) schurigelt, Mutter Adelheid (Beatrice Frey) verhätschelt ihn. Respektlos sagt er dem berühmten Dr. Sigmund Freud (Georges Kern) Wahrheiten ins Gesicht, der wiederum bezichtigt ihn des Plagiats. In einem wüsten Alptraum erscheinen ihm Strindberg als leutseliges Denkmal, der Kritiker Möbius als rabiater Beckmesser und Tietz als vermittelnder Freund. Schottenberg, in wechselnder Maske, macht daraus eine famose Szene von grotesker Eindringlichkeit. Weiningers Bordell-Besuch ist von pikanter Brisanz. Und immer mal wieder der Blick auf den Prater, immer mal wieder ein Wiener Walzer. Wie angenehm gemütlich sozusagen könnte das Leben sein...

Erbauliches, ergötzendes, weil menschliche Widersprüche differenziert austragendes Theater. Lang anhaltender herzlicher Beifall. Viele Bravos. Ein erfolgreicher Abend für das Schloßpark Theater.

 

 

 

Neues Deutschland, 8.März 1996