„Voltaires Neffe“ von Hans Magnus Enzensberger am Renaissance-Theater Berlin, Regie Piet Drescher

 

 

 

Was Philosophen reden

 

Am Berliner Renaissance-Theater brillierten 1963 0. E. Hasse und Alfred Schieske mit Diderots geistvoll aufklärerischem Dialog »Rameaus Neffe«. 1972 überzeugten mit eben dem Text Helmut Straßburger und Winfried Wagner an der Volksbühne. Jetzt gibt es im Renaissance-Theater - als Uraufführung mit Veit Schubert und Matthias Günther - eine Neuauflage des dialektisch scharfsinnigen Disputs. »Voltaires Neffe« von Hans Magnus Enzensberger, vom Autor mit dem Untertitel »Eine Fälschung in Diderots Manier« versehen, ist eine aufschlußreiche Debatte zwischen einem Verweigerer und einem Kritiker der Gesellschaft.

Zwar ist diese und jene Sentenz von Diderot (1713-1784) abgekupfert, Enzensbergers Dispute haben aber nicht mehr das Leben in den Pariser Salons zum Gegenstand, sondern Ausbeutung, Börsenspekulation und Sklavenhandel. Obwohl in historischem Gewand, gibt der Text Gelegenheit für aktuelle Seitenhiebe, die Regisseur Piet Drescher, ohnehin auf Plastizität der Gedanken bedacht, sehr wohl verteilt.

Im Foyer einer offenbar ziemlich verarmten Akademie (Bühnenbild Dieter Klaß), in deren Sitzungssaal eine hochpolitische Konferenz stattfindet - ein gefangener Häuptling der »Wilden« wird zwangsweise dorthin verbracht -, begegnen sich die zwei Männer. Der junge, der sich als Neffe Voltaires ausgibt, fliegt gerade in hohem Bogen und mit blutender Nase aus dem Saal, wo er mit einer Einladung seines Onkels Einlaß begehrte. Der ältere, 'der Philosoph, hatte sich ohnehin im Foyer aufgehalten, weil er, von der Akademie zwar gebeten und auch erschienen, dennoch Distanz demonstrieren will. Er verhält sich, wie manche Geistesgrößen zu lavieren pflegen: Zwar versteht er, die Gesellschaft und ihre schmarotzenden Repräsentanten klug zu kritisieren, aber er weiß sehr genau, wie weit er hierin gehen darf, ohne seine einträgliche Existenz zu verspielen. Matthias Günther gibt diesem aalglatten Herrn - vom Autor Philosoph, nicht Diderot genannt - eine diabolische Langmut. Da operiert ein Denker unter gepudertem Gesicht und lockiger Perücke, der allerhand begriffen hat von der Relativität menschlichen Fortschritts und sich seit langem der fatalen Tatsache beugt, dass grausamer Sklavenhandel und lukrative Kolonien anscheinend schicksalhaft Voraussetzungen sind für Arbeit und Brot im Mutterland.

Der junge Mann hingegen, ein wendiger Schlawiner, verteidigt zynisch-vergnügt seinen Müßiggang. Veit Schubert zeigt vor allem den lausbübisch-gewitzten Aussteiger, der hinter all dem klugen Gerede des Philosophen dessen praktische Ohnmacht erkennt. Er, der Lebenskünstler, setzt nicht auf ein vages Glück in der Zukunft, sondern auf das mögliche des Tages, den er gerade erlebt.

Das amüsante geistige Florettgefecht zwischen den ungleichen Kontrahenten ist vom Regisseur zu einem gefälligen Spiel gefügt, unterbrochen durch mehrfache Auftritte eines uralten Bankiers, geleitet und gestützt von zwei Nonnen (Puppenspieler Atif Hussein). Was hat er nun von seinem Reichtum, der sieche Bankier, diese lebende Mumie? Wie auch immer - er hatte und er hat die Macht. Gut, daß ein deutscher Bühnenautor einmal wieder daran erinnert.

 

 

 

Neues Deutschland, 3. Februar 1997