„Das Nest“ von Franz Xaver Kroetz am Berliner Ensemble, Regie Nino Sandow

 

 

 

Ohne Schuld schuldig?

 

 

Keine Frage - Franz Xaver Kroetz gehört auf den Spielplan des Berliner Ensembles. Das bewies im Dezember vergangenen Jahres unter Leitung Peter Zadeks ein junges Regie-Team, das die Szenen „Ich bin das Volk" vorstellte. Es bestätigt sich jetzt in der Probebühne, wo in der Regie des jungen Nino Sandow das Volksstück „Das Nest" zu sehen ist. Kroetz ist der Plebejer, der von drunten, aus der Sicht der kleinen Leute, auf Welt und Gesellschaft blickt und dabei ausfindet, wie vertrackt elend es eben diesen kleinen Leuten ergehen kann.

Verträumter Ort irgendwo in Oberbayern. Martha und Kurt erwarten ein Kind. Das junge Paar wägt sorgfältig, was angeschafft werden sollte, um den neuen Erdenbürger würdig empfangen zu können. Mit Überstunden, die der Chef ihn machen läßt, sorgt Kurt, der Kraftfahrer, für das nötige Geld. So bereiten die zwei dem Ankömmling ein warmes Nest. Mit Stefan, dem Baby, fährt Martha eines Tages an einen verschwiegenen See, in den wenige Zeit vorher der ahnungslose Kurt im Auftrag seines Chefs einige Fässer Gift gekippt hat. Das Kind erkrankt lebensgefährlich. Kurt, sich der Schuld bewußt, von Martha verachtet, will Selbstmord begehen, hat aber nicht die Kraft. Stefan überlebt. Die Schuldfrage bleibt. Hat auch der kleine Mann Verantwortung für die Umwelt? Soll Kurt zur Polizei gehen und den sicheren Arbeitsplatz riskieren?

 

Das sind so Fragen! Sie unerbittlich zu stellen, hat Kroetz ein geradezu penetrant konsequentes Vermögen. Fast, scheint es, geht er zu umständlich dabei vor, nimmt er Details zu naturalistisch gewichtig. Aber ihm gelingt, sehr gegenwärtige, sehr bodenständige Menschen und deren soziales Dilemma differenziert vorzuführen. Viele kurze, sehr milieubetonte Szenen. Ein Problem für die Regie. Wie - beispielsweise - zeigt sie auf der Bühne, daß ein Mann bis zum Hals, dann auch mit dem Kopf im See untertaucht und sogar lange unten bleibt?

 

Sandow faßt solche Vorgänge pantomimisch. Er und sein Bühnenbildberater Christian Beck setzen überhaupt auf die Phantasie der Zuschauer. Also keine konkreten Szenenbilder, sondern ein an Seilen hängendes hölzernes Geviert, das anfangs einen TV-Schirm markiert und dann, immer wieder in andere Positionen gebracht, mal die Wohnung, den Garten oder das Seeufer assoziieren soll. In dieser abstrakten Örtlichkeit bauen die Spieler ihre Figuren erfreulich konkret auf.

 

Ausnehmend gut gefiel mir Hans Fleischmann als Kurt. Er ist von einer prächtigen Unmittelbarkeit. Eine treuherzig naive Seele, gutmütig, gemütlich, wunderbar dröge beim Denken, schön einfältig, lieb und redlich. Ein wahrer Oberbayer sozusagen, auf den der Chef wie der Staat allemal bauen können. Trefflich, wie Fleischmann den wägenden jungen Ehemann spielt, der seiner Frau in treuer Liebe alle gewünschten Anschaffungen zusagt und dabei seinen Finanznerv immer empfindlicher einklemmt. Oder wie er zerknirscht und reuevoll zu seiner Tat steht und sich bei sich selbst nicht mehr auskennt. Veronika Nicki als Martha ist von deftiger, frischer Weiblichkeit und zugleich von einer gewissen Vornehmheit, was dem Ehepaar einen reizvollen Kontrast gibt.

Da ist noch Stefan, empfindsam skizziert von Christoph Müller, der ansonsten als Requisiteur und als Sprecher füngiert. Allerhand Regieanweisungen des Autors werden nämlich einfach angesagt. Das funktioniert. Possierlich ist Müller als Baby Stefan. Er kann herrlich unschuldig dasitzen oder sich schmiegsam räkeln. Hier zeigt sich zugleich ein Talent des Regisseurs für feinfühlig pointierte Lebenssituationen. Was Sandow noch fehlt, ist Zeitgefühl für seine Einfälle. Kroetz verlangt eine langsame Spielweise, gewiß. Aber man muß das verzögerte Geschehen dann nicht auch noch unnötig dehnen. Überflüssig übrigens auch die Dia-Einblendungen, die einen Agit-Stil einbringen, der dem Volksstück nicht gemäß ist.

 

 

Neues Deutschland, 11. April 1995