„Nibelungen-Trilogie“ von Friedrich Hebbel am
Staatsschauspiel Dresden, Regie Wolfgang Engel
Gleichnis von der Kraft historischer Vernunft
Am Staatsschauspiel Dresden versuchte 1984 Wolfgang Engel risikofreudig eine szenische Deutung der noch kaum auf unseren Bühnen gespielten „Nibelungen" -Trilogie von Friedrich Hebbel. An der Inszenierung ist seitdem weitergearbeitet worden. Jetzt steht sie erneut im Spielplan. Größe und komplizierte Vielschichtigkeit des Unternehmens rechtfertigten eine geistige Investition dieses Umfangs. Die beharrliche künstlerische Auseinandersetzung lohnen die Dresdner mit Andrang an der Kasse. Gewiß lockt da auch der Reiz des Außergewöhnlichen bei diesem Stoff.
Friedrich Hebbel (1813 bis 1863) war neben
Richard Wagner — der sich die Bücher zu seinen Opern bekanntlich selbst schrieb
— ein bedeutender Vertreter nachrevolutionärer Dramatik, und beide schöpften
gelegentlich auch aus den gleichen Quellen. 1860 nutzte Hebbel das aus dem 12.
Jahrhundert in mehr als 30 Handschriften überlieferte, von der Romantik wiederentdeckte
Nibelungenlied, um in der schier unabwendbaren Not der Nibelungen etwas von der
Ausweglosigkeit zu spiegeln, in die demokratisch gesinnte Vertreter des
Bürgertums nach der gescheiterten Revolution von 1848 gekommen waren.
Zugleich stellte Hebbel in Verfolg seiner
ethischen Motive — gewollt oder ungewollt — die aufkommende nationalistische Glorifizierung
„deutscher Treue" wie das daraus erwachsende falsche Heldentum in Frage,
indem er dessen Widersinn dramatisch aufdeckte. Dabei tat er dem Volksepos
keineswegs Gewalt an.
Der freie, selbstbewußte Held Siegfried, der
Drachentöter, ein Ideal individueller Tatkraft, verschmäht die ihm von
mythischen Mächten zugedachte, das alte Matriarchat verkörpernde Brunhild,
Herrin von Island. Er hilft dem Burgunderkönig Günther, um dessen Schwester
Kriemhild werbend, die aus einem Riesengeschlecht stammende mächtige Brunhild
zu besiegen und dem Herrscher gefügig zu machen. Als er dann unbequem wird,
zuviel weiß und zuviel ausplaudert, mordet ihn — auf Drängen auch der gedemütigten
Brunhild — Günthers getreuer Vasall Hagen. Kriemhild, Siegfrieds stolze Witwe,
nach Jahren vom Hunnenkönig Etzel zur Frau genommen, begehrt den ihrem ersten Gatten
geraubten Nibelungenschatz zurück. Ihr Verlangen führt zu grausamer Rache an
Hagen und ihren Brüdern, bewirkt allgemeine Vernichtung. Die Reichtümer bleiben
verloren.
Wolfgang Engel entsprach durchaus Hebbels
Wunsch, nichts anderes im Trauerspiel zu suchen als eben der „Nibelungen
Not". Doch er machte als analytischer Theatraliker mit frappierenden
Bildern anschaulich, worin diese besteht. Es ist die Not derer, denen
versteinerte Verhältnisse und Vorstellungen den Weg in die Zukunft blockieren. In
der Epoche gewaltigen Umbruchs aus heidnischer in christliche Zeit, aus
urgesellschaftlicher Geschichte in die der Klassenkämpfe stehen die Nibelungen,
Kriemhild wie ihre Brüder, tief in archaischer Konvention. Es kommt zur
Apokalypse, wenn menschliche Vernunft und Einsicht in historische Notwendigkeit
zum Schweigen gebracht werden. Borniert-reaktionäres Heldentum läuft Amok. Mit
dem Mord an Siegfried war gleichsam die Hoffnung aus dieser sagenhaften Welt
eliminiert. Der Gang der historischen Vernunft freilich war damit nicht
aufzuhalten.
Die tragische Geschichte vom gehörnten
Siegfried nannte Friedrich Engels das wichtigste deutsche Volksbuch. Da ist, meinte
er, „die üppigste Poesie, bald mit der größten Naivität, bald mit dem schönsten
humoristischen Pathos vorgetragen..." Siegfried ist ihm „der Repräsentant
deutscher Jugend".
Dieser Sicht folgte der
Regisseur und setzte sich kritisch mit der Figur auseinander. Für den lauteren,
unerschrockenen Helden hatte er eine ideale Besetzung: den stämmigen, burschikos-jugendlichen
Joachim Nimtz. Der Darsteller spielt differenziert den arglosen, in
Liebesangelegenheiten linkischen, ansonsten redlich-forschen Tatendurstigen.
Nicht so sehr die offene Stelle in seiner Drachenhaut macht ihn verwundbar.
Kraft ohne Wissen, stellt sich heraus, ist manipulierbar. So wird Siegfried
letztlich tragisches Opfer. Die Einfalt dieses Helden gibt Nimtz auf eine Art, daß
man dem Siegfried nicht gram sein kann, aber auch nicht geneigt ist, sich zu
identifizieren..
Hier ist kaum Raum, alle beachtlichen
schauspielerischen Leistungen zu würdigen. Cornelia Schmaus als Brunhild ist eine
Nörne von geistiger Kraft vor allem, die — von den Männern gedemütigt und in
ihrem Stolz gebrochen — schließlich nur noch dahinvegetiert. Hannelore Kochs
Kriemhild, erwartungs-frohe Jungfrau zunächst, wird zur unerbittlichen,
besessenen Rächerin. Rudolf Donaths Hagen ist ein Mann des eiskalten Managements.
Horst Krause prägt sich ein als eifernder Kaplan, Peter Kube als zwar
undoktrinärer, aber schwächlicher Günther, Joachim Zschocke als Etzel, der
wider Willen in das Verhängnis hineingezogen wird.
Etzel zwingt sich mit einem ungarischen
Geduldswürfel zur Ruhe. Derlei ahistorische Mittel sinnvoller Verfremdungen
nutzt der Regisseur oft. Dabei ist Engel gegenüber der ersten
Spielfassung haushälterischer, umsichtiger geworden. Insgesamt sucht er nicht
die ferne Größe der Recken, sondern ihre profane Alltäglichkeit — mit der
Geste, dem Kostüm, dem Bühnenbild. So wird die Intrige zwischen Hagen, Günther
und Siegfried gegen Brunhild ordinär in einem neonbeleuchteten, bespiegelten
und weiß gekachelten Pissoir ausgehandelt. Dergestalt treibt Engel die
Begebenheiten gelegentlich bis zur Persiflage.
Das legendäre Geschehen spielt von Anfang bis
Ende im grau-düsteren Innern eines Luftschutzbunkers (Ausstattung: Jochen Finke
als Gast). Damit soll offenbar ständig ins Bewußtsein gerufen werden, wie vor
vierzig Jahren bornierter Heldenwahn endete. Ich glaube allerdings, daß damit
das Gleichnis noch nicht einmal voll ausgedeutet ist. Die poetische Kunde der
Sage ist reicher, was die Inszenierung im ganzen hinlänglich belegt.
Neues
Deutschland, 4. Dezember 1985