„Siegfried/Frauenprotokolle/Deutscher Furor“ von Volker Braun, Uraufführung am Nationaltheater Weimar, Regie Peter Schroth und Peter Kleinert

 

 

 

 

Nibelungensage in zeitgenössischer Sicht

 

Das Stück handelt von dem in der Nibelungensage überlieferten Untergang der Burgunder, eines germanischen Volksstammes, der 436 den Hunnen unterlag und 451 in die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern verstrickt wurde. Das wird bei Braun zu einem Gleichnis, zu einer Warnung „vor alten Mustern von Abläufen, die ins Nichts führen", zu einem Aufschrei nach Frieden. Keine Klage der Ohnmacht, empfinde ich. Eine Aufforderung, hier und heute „mehr zu tun", „eh die Welt zerstürzt". Eine Kunde, die das Publikum bei der Weimarer Uraufführung sehr wohl verstand. Beifall auf offener Szene.

Dabei macht es der Autor Volker Braun seinen Zuschauern nicht leicht. Wer die alte deutsche Heldensage nicht noch einmal nachgelesen und nicht auch ein wenig im Geschichtsbuch geblättert hat, wird Mühe haben, den komprimierten, an- und gegeneinander gewuchteten Vorgängen zu folgen. Der Autor verzichtete weitgehend auf psychologische Motivationen seiner Figuren. Er konstruierte ein lyrisch-dramatisch-episches, durchaus theatralisches Episoden-Gebilde, das, auf die Bühne gebracht, ich ein üppig mit Bildern operierendes Theater der Argumentation nennen möchte.

Diese Art, vielleicht gar Manier, ist gewiß nicht jedermanns Sache. Die Regisseure Peter Schroth und Peter Kleinert bewiesen merklichen Spürsinn für Brauns Intentionen und erfanden überwiegend überzeugende szenische Lösungen. So ist in Weimar eine Inszenierung zu sehen, die die vielschichtige, diffizile und tiefgründige Poesie Brauns in einer — wie ich meine — gültigen Lesart vorstellt.

Im „Siegfried" genannten ersten Teil des Werkes, einem mythologischen Spiel, macht Braun zunächst einmal mit dem Volkshelden der Sage bekannt, dem Drachentöter, der im Wettkampf mit Krimhilds Brüdern siegreich bleibt. Die Begebenheiten werden in der Uraufführung partiell als ein rüpelhaftes Puppenspiel vorgeführt. Das hat die ursprüngliche Lebendigkeit eines derben Volksstückes und stimuliert für tragikomische Akzente dann auch des zweiten Teils.

In den „Frauenprotokollen" wird das Nibelungenlied mit Blick auf die Frauenschicksale reflektiert. Siegfried macht die stolze Norne Brünhild für König Gunter gefügig. Siegfrieds Frau Krimhild, die Brünhilds Gürtel findet, erfährt von ihm die Wahrheit. Eine ganz neue Partnerschaft zwischen Frau und Mann scheint möglich. Doch solch seiner Zeit weit vorauseilendes Verhalten kann das junge Paar nicht behaupten. Siegfried wird von Hagen ermordet. Krimhild und auch Brünhild geraten zwischen die Machtinteressen der Männer.

Im dritten Teil, „Deutscher Furor" genannt, stellt Braun der Nibelungen Not in historische Zusammenhänge. Wandernde Volksstämme formieren, bekriegen sich, bedrohen das römische Kaiserreich. Inmitten der ungeheuren sozialen Umbrüche steht Siegfried, der Franke, der sich römischer Knechtschaft nicht beugen will. Hagen, Burgunde und abhängig von Rom, ermordet Siegfried. Die blutige Auseinandersetzung eskaliert. Die Überlebenden der katalaunischen Schlacht — wie noch stets bei Kriegen — sind Frauen, bei Volker Braun sind es Trümmerfrauen: Womit der Dichter all die vergangenen Jahrhunderte gleichsam als eine Vorzeit der Kriege assoziiert und auf die historische Chance zum Frieden verweist, die der Menschheit an der kommenden Jahrtausendwende erstmals gegeben ist.

Bei dieser Gelegenheit modelliert Braun den Siegfried — und die Regie hält mit — zu einem zwar widersprüchlichen, so doch möglichen Symbol für vernünftige und friedfertige Taten. Er schafft das, indem er ihn mehrfach skizziert, zeitlich in verschiedene Epochen stellt.

Detlef Heintzes Siegfried ist nicht der gewohnte Recke. Er ist gleichsam ein Held nebenbei, alltäglich, vertraut, ein großer Junge. Die Krimhild von Martina Schumann — eine wendige, elanvolle Frau, die in naiver Zärtlichkeit aufblüht und sich wieder verschließt. Die Brünhild von Karin Schroth — eine schlanke, spröde Schönheit, überzeugend im Kampf mit Siegfried, zu wenig differenziert im aufkommenden Wahnsinn. Der Hagen von Bernd Lange - der Urtyp eines Schergen. In weiteren Rollen Hasso Billerbeck (Gunter), Axel Wandtke (Volker) und Henning Orphal (Etzel).

Das farblich zurückhaltende Bühnenbild Franz Havemanns gestattete vielgestaltige szenische Lösungen.

 

 

Neues Deutschland, 7. Januar 1987