„Nietzsche oder Das deutsche Elend“ von Alexander Widner am Schlosspark-Theater
Berlin, Regie Thomas Birkmeir
Ein Kranker fühlt sich apollig
Im Wandelgang des Schloßpark-Theaters stehen fein ordentlich aufgereiht gut zwei Dutzend gipserne Wagner-Büsten. Nachschub für den Berserker Friedrich, der pro Vorstellung ein Exemplar zertrümmern wird. Autor Alexander Widner verschafft damit seiner Titelgestalt in »Nietzsche oder Das deutsche Elend« einen effektvollen Höhepunkt.
Man mag Spiele über Persönlichkeiten der Geschichte nicht eben sinnvoll
finden, weil ein Autor wohl oder übel Wahrheit und Dichtung ineinander fügen
muss. In der Tat dienen sie Bearbeitern zuweilen dazu, eigene Draufsicht unter
die Leute zu bringen. Der Österreicher Widner, dessen biografisches Stück 1992
in Wien uraufgeführt wurde, ist, scheint mir, um historische Treue bemüht. Er
skizziert den deutschen Philosophen als einen hochsensiblen, geistig labilen,
unentwegt räsonierenden Mann, der alle Welt hasst, das Klima in Deutschland
und überhaupt diese unsäglichen Deutschen, die nicht über sich selber lachen
können und an ihrer stumpfen Ernsthaftigkeit zu ersticken drohen.
Friedrich Nietzsche (1844-1900), Sohn eines Pfarrers, gezeugt »in der
Zeit, wo der Vater schon krank war« (Krankenbuch zu Pforta, 1862), machte als
Philosoph steil Karriere, obwohl er sich »seit 1873 dauernd irgendwie krank«
fühlte. Und er hegte eine auch schon fast wieder pathologische Liebe zur Musik,
versuchte sich autodidaktisch als Komponist, ohne je Richard Wagner, den er als
Konkurrenten empfand, das Wasser reichen zu können.
Von Widner abgehandelt wird eine letzte Lebensphase nach
1890, als Mutter Franziska ihren schwerkranken Sohn zu sich in Pflege genommen
hatte. Wenn man schon befürchtet, das Stück laufe sich leer in Wiederholungen,
insonderheit in Wagner-Schimpfe, setzt der Autor doch noch deutlich seinen
Akzent. Er nimmt Nietzsche vor dessen Schwester Elisabeth in Schutz, der
Gattin des fanatischen Rassen- und Kolonialpolitikers Förster, die das Werk
des Bruders in ihrem nationalistischen Sinne auslegte und fälschte.
Die widersprüchliche Gestalt ist bei dem stattlichen Joachim Bliese gut
aufgehoben, der den Nietzsche in der Regie von Thomas Birkmeir allerdings noch
recht rüstig, noch recht mobil gibt. Zwar hockt er anfangs reglos in einer
Zinkbadewanne, so dass Famulus und Vertrauter Peter Gast (Alexander Pschill)
schon das Ärgste befürchten muss, aber dann philosophiert, argumentiert,
lästert und eifert kein primär geistig Kranker. Ein total überreizter,
körperlich angeschlagener, von Migräne und lärmendem Tinnitus geplagter, sich
willentlich immer wieder aufbäumender Wissenschaftler fühlt sich »apollig« und
geizt nicht mit vernichtenden Verdikten.
Der Mann ist ans Haus gefesselt, wenn auch nicht im wörtlichen Sinne
eingesperrt. Der große Raum, in dem er spartanisch haust (Bühnenbild Andreas
Lungenschmid), scheint neu errichtet, die hölzerne Dielung noch unvollendet.
Ein etwas abstrakter Ort, Friedhofshalle eher denn Wohnzimmer. Licht flutet
durch Fenster und Portale. Im Hintergrund, auf tempelartigem Sockel, steht in
geweihter Höhe eine Büste, von der Schwester mit besonderer Helligkeit
umgeben, nachdem der Bruder geistiger Umnachtung verfällt.
Ihn hat ohne Zweifel auch die Provinzialität von Naumburg und Weimar zermürbt,
eine kleinbürgerliche Enge, der er nicht zu entrinnen vermochte. Die Mutter (Edith
Teichmann) nervt ihn mit ihrer ohnmächtigen Liebe und mit Kartoffelsuppe.
Schwester Elisabeth (Dagmar von Thomas mit schneidender Bestimmtheit)
tyrannisiert ihn mit ihrer fortwährenden Umdeutung seiner Anschauungen. Seine Gedanken
von einer Elite, von einem sinnenfrohen, Knoblauch genießenden Übermenschen
werden in ihrer Auslegung zur gefährlichen, seinen erbitterten Protest
auslösenden nationalistischen Maxime. Ihm verschlägt es den Atem, wütend brüllt
er zurück.
Vergebens sucht er Trost bei Freundin Lou Andreas-Salomé
(Wiebke Frost), einer jungen, von der Schwester verachteten Russin, mit deren
Hilfe er noch einmal ins sonnige Italien zu kommen hofft. Wo er in Florenz ein
Buch von Schopenhauer vergraben möchte. Mit Wagner verbeißt er sich geistig so
vehement, dass ihm im Wahne dessen Gattin Cosima (Barbara Friedrichsen) als
Walküre erscheint, es mit ihm treibt und ihn ersticht.
Hatte man den Ankündigungen geglaubt und einen
schnauzbärtigen, knollennasigen Nietzsche erwartet, eine leicht clowneske
Version also, sah man sich enttäuscht. Regisseur Birkmeir wagte kein Risiko,
ließ auf Identifikation spielen. Wahrscheinlich ging so mögliche Komik verloren,
die befreiend kritische Distanz. Dennoch anhaltender Beifall.
Neues Deutschland, 21. März 2000