„Parasiten“ von Marius v. Mayenburg an der Schaubühne Berlin, Regie Thomas Ostermeier

 

 

 

Ratte beißen

 

Sind Nihilismus, Fatalismus und De­fätismus, diese morbiden Kategori­en, wirklich noch brauchbar für äs­thetische Höhenflüge?

An der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin versucht sich Regisseur Thomas Ostermeier einmal mehr. Er hat Erfah­rung im Aufbereiten abstruser Geschich­ten, wobei er Brutalisierung nie als Büh­nenselbstzweck nimmt. Jetzt bringt er in einer Koproduktion mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg die Urauffüh­rung des Fatalspiels »Parasiten« von Marius von Mayenburg. Der junge Texter des Jahrgangs 1972, studierter Altgermanist, Hausautor der Schaubühne, versteht sich immerhin auf plastisch bildhafte Dialoge. Aber seine psychisch mehr oder weniger labilen Gestalten leben nicht, sie vegetie­ren, und das nicht etwa am Rande der Gesellschaft, sondern in einem undefinier­baren sozialen Niemandsland (Spielort: anonymer Bühnenboden mit abgenutz­tem Sofa und roten Nelken in roter Vase).

So feinsinnig differenziert Thomas Ostermeier von seinen Darstellern abson­derliches Verhalten supernatürlich repro­duzieren lässt: Die szenische Angelegen­heit bleibt unersprießlich. Da wird der Eindruck erweckt, als sei der Mensch a priori ein Schmarotzer, sozusagen gott­gewollt. Nicht Liebe und Verständnis für den anderen bewegen ihn, sondern bru­taler Egoismus. Und keine Frage nach Motiven und Ursachen.

Die werdende junge Mutter Friderike (Karin Pfammatter) ist psychisch gestört und hasst das Kind in ihrem Leib. Sie droht mit Selbstmord. Ihr Mann Petrik (Tilo Werner), ein fieser Flegel, versorgt lieber seine Schlange als seine Frau. Ihr Schicksal ist ihm gleichgültig. Friderike verlässt ihn und sucht bei ihrer Schwester Betsi Zuflucht. Doch Betsi (Cristin König) ist überfordert, denn sie pflegt bereits ih­ren durch einen Autounfall gelähmten und an den Rollstuhl gefesselten Mann Ringo (Mark Waschke). Dieser Ringo ist zum wi­derwärtigen Zyniker geworden, ge­braucht das Leiden, tyrannisiert seine Frau und Multscher (Werner Rehm), einen leicht senilen alten Herrn, der Ringo überfahren hatte und nun mit tätiger Hilfe seine Schuld abtragen möchte, in Wirk­lichkeit das Alleinsein zu überwinden hofft. Als Petrik, vereinsamt und daher reumütig, seine Frau heimholen will, wird er von ihr abgewiesen. Wie ein Hund lun­gert er nun vor Ringos Tür herum und wird von ihm gedemütigt. Friderike nimmt Gift. Irgendwie brabbelt sie noch im offenen Sarg. Betsi macht sich auf und davon.

Als vor rund hundert Jahren der üppige Realist Max Reinhardt den nüchternen Naturalisten Otto Brahm auf der Bühne ablöste, atmeten die Schauspieler auf. Endlich mussten sie nicht mehr Abend für Abend echte Klöße mampfen. Der Neonaturalismus hat seine eigene Speisekar­te. Diesmal war Ratte beißen angesagt. Wäre es nicht an der Zeit, auf der Bühne generell neu aufzutischen?

 

 

 

Neues Deutschland, 25. Oktober 2000