„Die Perser“ von Aischylos an der Freien Volksbühne Berlin, Regie Christof Nel

 

 

 

Fixierbilder statt beredter Vorgänge

 

Eine Aufführung der „Perser" von Aischylos, der ältesten erhaltenen Tragödie, könnte die Sternstunde des Theaters sein. In der Freien Volksbühne in Berlin ist's ein akustisches und szenisches Debakel. Regisseur Christof Nel folgte sklavisch der Programmheft-Verkündung des Gurus Heiner Müller, die Übertragung Peter Witzmanns sei „Wort für Wort zu lesen".

Nach dumpfen Hammerschlägen auf der sich schließenden Bühne, hebt im mit Vorhängen verkleinerten und stockdunkel gehaltenen Zuschauerraum der Chor an, die Verse zu zerhackstücken und in Worte zu vereinzeln. Da die Leute zudem verstreut stehen und überdies fortwährend geheimnisvoll hin und her huschen, klappen die Anschlüsse nicht, wird letztlich inhaltsdiffus und hilflos aufgesagt.

Was Müller schwerlich gemeint haben kann, inszenierte Nel: Distanz vom Text, Verdunkelung bis zur Unverständlichkeit, und Sinnleere der dazu ablaufenden Spielastik. Keine konkrete Auseinandersetzung. Die Figuren in vagen Umrissen. Der Chor entpuppt sich als ein seltsamer Haufe karnevalesk gekleideter junger Leute.

Dabei ist der Hergang der Tragödie, in Athen uraufgeführt im Jahre 472 v.Z., von klassischer Einfachheit und Größe, mystisch gewiß auch, vor allem aber so sehr, so bestürzend menschlich. Um seine Niederlage bei Marathon zu rächen, ist Xerxes, der Herrscher von Persien, mit seinen Land- und Seestreitkräften über Griechenland hergefallen. Der Chor, in der Heimat zurückgebliebene Greise aus fürstlichen Geschlechtern, ist besorgt, die Götter könnten der Okkupation ihren Segen versagen.

Da keine Kunde kommt vom fernen Schlachtfeld, hält es Atossa, Xerxes' Mutter, nicht in ihrem Palast. Sie erscheint im Staatsprunk, um dem Rat ihre beunruhigenden Träume mitzuteilen. Doch nun meldet ein Bote, daß das freie Volk der Griechen die Eindringlinge bei Salamis geschlagen hat. Atossa verschmerzt die Nachricht schnell, als sie erfährt, daß ihr Sohn davongekommen ist. Der Jammer des Chores indessen ist groß und kritisch. Nicht nur, daß die Alten Xerxes beschuldigen. Sie fürchten auch, daß sich Asiens Völker persischer Macht nicht mehr fügen werden und daß gar das eigene Volk künftig eine freie Lippe riskieren wird.

Selbst der durch Totenklage herbeibeschworene Geist des Dareios, des verstorben Gatten der Atossa, verurteilt die Torheit seines Sohnes. Er sieht für Persien nur dann eine Rettung, wenn es nie wieder in hellenisches Land einfällt. Als aber der geschlagene Xerxes heimkehrt, hat er offenbar nichts begriffen. Er fordert den Chor kategorisch auf, für ihn wehzuklagen, sich für ihn die Kleider zu zerfetzen, sich für ihn das weiße Barthaar auszureißen.

Welch für Jahrtausende gültige Botschaft über die Hybris machtbesessener Herrscher! Nel fand dafür keine beredten Vorgänge, allenfalls Fixierbilder. Etwa derart, daß sich am Ende der Chor im Dunkeln verkrümelt und Xerxes zusammenbricht. Also Tragödie des Kriegsverbrechers, statt — wie bei Aischylos — des geschundenen, auch fernerhin tyrannisierten Volkes.

Allein die hervorragende Dagmar Manzel als Atossa macht die Vorstellung erträglich. Sie spricht nicht hohl, sondern empfindsam und sinnzusammenhängend. Ihr realistisches, der Regie sich entziehendes Spiel läßt ahnen, welch theatrale Gewalt noch heute von dieser Tragödie ausgehen könnte.

Müder Beifall. Buh-Rufe für den Regisseur.

 

 

Neues Deutschland, 15. April 1991