„Puntila“ von Bertolt Brecht in Dessau,
Regie Denys Seiler
„Der Kreidekreis“ von Bertolt Brecht in Bautzen, Regie Wolfgang
Fleischmann
Ursprünglicher Brecht
Unsere Besuche in Dessau und Bautzen halfen, klarer wahrzunehmen,
was eine allgemeine Tendenz im Umgang
mit Brecht zu sein scheint und nach unseren bisherigen Eindrücken zwar
Empfindung, noch nicht aber Erkenntnis genannt werden konnte. Bekanntlich war
das „Zeigetheater" schon zu Brechts Lebzeiten umstritten, das
„Zeigen" der Figuren in der „richtigen distanzierten Haltung".
Schauspieler wie Ernst Busch oder
Gerhard Bienert haben immer bewiesen: der soziale Gestus — eine
der großen Entdeckungen Brechts für die Schauspielkunst — läßt
sich auch „spielen", er muß nicht unbedingt
„gezeigt" werden. Der Streit ist abgeklungen, vielleicht auch, weil die
Praktiker Jahr für Jahr zu Antworten herausgefordert, Entwicklungen ausgelöst
haben, die ihn müßig machen. Der heute zu beobachtende Trend — von Peter Kupke
im Berliner Ensemble durch „Puntila" deutlich
mit Akzenten versehen und erfreulicherweise nicht mehr allein von der
Hauptstadt vorgegeben — geht auf ursprüngliches mimetisches Spiel, vermeidet
distanzierte Haltung gegenüber den Figuren und sucht unmittelbare, sozusagen
„klassische" Kommunikation mit dem Publikum. Die Inszenierungen in Dessau
und Bautzen sprechen dafür, wenn auch mit auffällig unterschiedlichen
Ergebnissen.
In der Dessauer Aufführung — ein wenig nüchtern ausgestattet von
Günter Kretzschmar — gibt Gerhard Rachold den Puntila. Er versieht ihn mit derben, kräftigen Zügen,
urwüchsig, vital, ihn nicht distanziert zeigend, sondern ursprünglich spielend.
Aber sein Spiel ist wenig mimetisch, bezieht das Clowneske der Figur, das
Element der Commedia dell'arte, ganz aus dem überkommenen Reservoir
artifizieller Fertigkeiten, ist nicht konkrete Geste, auch nicht sozialer
Gestus, sondern demonstrative Theatergebärde. Und Kretzschmar liefert dazu
weite Beinkleider und betont großes Jackett. So wird Puntila
zur plastischen Theatergestalt, ungelenk stehend oder einhergehend, ausladend
in der Spielastik der Arme, mit weit aufgerissenen,
rollenden oder baß erstaunten Glubschaugen. Damit erzielt Rachold
überraschende Wirkungen, und das Publikum folgt seinem Spiel mit interessierter Aufmerksamkeit und
offenkundigem Vergnügen. Hin und wieder scheint es, als sei sein Puntila soeben einer Zeichnung von George Grosz entstiegen,
mit stilisierter, groß gezogener Körpersprache und drastischer,
ausdrucksstarker Mimik. Unverdrossen verstrickt er sich in die Fährnisse seiner
Trunkenheit, trollt er durch die Szenen. Das ist durchweg possierlich, aber der
poetische Witz verliert an Stoßkraft. Vor allem deshalb: Rachold
nimmt als nüchterner Puntila lediglich den Text etwas
flotter, er hetzt mit ihm, als wolle Puntila recht
schnell über die Nüchternheit hinwegkommen. Aber den Unterschied zwischen
trunken und nüchtern nutzt er kaum für die Beredsamkeit seines Spiels, selbst
das Nüchternwerden in der Badestube wird zu wenig zum
beredten Vorgang. Hier steht die Theatergebärde im Wege, hier reicht sie nicht
aus, bei Brecht schon gar nicht. Wahrscheinlich hat auch der Regisseur die
Fabelpunkte in Nüchtern- und Besoffenheit des Puntila
zu wenig im Auge gehabt. Denys Seiler reizte z.B. der Gesindemarkt, das
Verdingen der Knechte. Auf seinem Dorfplatz warten die Arbeitsuchenden
zusammengepfercht in einem Holzverschlag,
eingesperrt wie wohlfeiles Vieh. Die begutachtenden und auswählenden
Großbauern laufen rauchend um das Gatter herum. Und neben diesem makabren
Geschehen das emsige Treiben des normalen Marktlebens. Das auffällige Zeigen
dieser sozialen Widersprüche ist möglich und legitim, gewiß,
aber wichtiger für die Fabel ist Puntilas Aktion auf
dem Gesindemarkt. An sich kommt die Auseinandersetzung zwischen Puntila und Matti gut ins Spiel, denn Hans-Dieter Krone
gibt einen naturalistisch direkten Matti, bar fast jeder theatralischen
Gebärde. Damit tut sich ein großer Gegensatz auf zwischen dem artifiziellen Puntila und dem alltäglichen Matti. Allein, dieser
Gegensatz ist statisch, entwickelt sich kaum im Verlaufe des Spiels, und seine
Lösung — ein guter Einfall: Matti verläßt Puntila geradeswegs vom Hatelmaberg
— kommt ein wenig überraschend. Selbstverständlich erfordert das große Dessauer
Haus eine eigene Spielweise, und ganz ohne Zweifel ist das demonstrative
Agieren Racholds gerade auch darauf bedacht. Aber es
fällt auf, daß die distinguierte Verstörtheit, mit
der Christine Lindemer gestisch konkret die Pröbstin spielt, durchaus auch das Publikum erreicht. Mehr
oder weniger demonstrativ handeln die Bräute des Puntila
(Verena Zimmermann als Emma, Jutta Spychalski als
Apothekerfräulein, Dagmar Morgenthal als Kuhmädchen, Hannelore Kreutz als
Telefonistin), überzogen hingegen wirkt Bärbel Röhl als Eva. Sie fand kein organisches
Zentrum für solche Spielweise, sie rutscht oft ab in leeres Grimassieren und
verschrobenes Gebaren. Einfach schlecht, wie sie mit langem Zigarettenspitzel
bewaffnet posierend und hüfteschwenkend über die
Bühne schiebt. Beredt der Vorgang jedoch, wenn sie in der Eheprobe
erkennt, daß ihre Erziehung falsch war, und prompt
dem Vater ihre Niederlage zuspielt. Etwas von der Gefährlichkeit des Puntila erzählt die Fina Susanne Roders,
die wie ein aufgescheuchtes, verängstigtes
Huhn rennt und hantiert, den nüchternen Puntila
zu bedienen. Mit bornierter, selbstgefälliger Arroganz stattet Herbert-Wolfgang
Krause den Attache aus.
In der Bautzener Aufführung gibt Hannelore Schubert die Grusche. Ihr Spiel ist mimetisch, gesund naiv, sozial
konkret und bis in die Sprache hinein gestisch genau. Sie redet nicht, sondern
produziert die Gedanken, gestisch verbalisiert. Und das ist eindrucksvoll,
jede Phase interessiert, erzwingt Aufmerksamkeit. Der Ungeheuerlichkeit ihrer
Tat bewußt, versteckt sie das hohe Kind. Wenn sie
zurückkommt, lauscht sie zunächst vorsichtig, zögert sie, nimmt sie es behutsam
auf, weil sie es einfach nicht allein lassen kann. Deutlich spielt sie die
feine Dame, um dem Kind ein Obdach zu verschaffen, doch dann, fast am Ziel, vergißt sie sich, grüßt sie ehrerbietig. Stets bringt sie
den beredten Vorgang, der über Grusches Verhältnis
zur Welt und zu den Menschen erzählt. Fröhlich tollt sie, wirft sie ihr Bündel
Habseligkeiten in die Lüfte, wenn sie sich der schweren Bürde entledigt, das
Kind ausgesetzt hat. Doch dann werden die Schritte schwer, und als die
Panzerreiter kommen, eilt sie, das Kind zu retten. Diese Grusche
ist von bestrickender Einfachheit, eine wahre Volksgestalt, bar theatralischer
Gebärden, die Geste vielmehr genau und klar aus der Situation entwickelnd,
poetisch im Ausdruck, damit Anteilnahme- und Sympathie der Zuschauer
gewinnend. Scheu steht sie zunächst hinter Simon, da es zum Prozeß
kommt, am liebsten möchte sie sich ganz verbergen. Doch dann kann sie nicht
mehr an sich halten, verlegen ringt sie die Hände, sucht sie nach Argumenten,
bis sie schließlich den Richter zornig attackiert. Die kleine, etwas
gedrungene, bescheidene und unscheinbare Darstellerin verfügt über Kraft und
Sensitivität, und wenn sie als Grusche ihr Kind nicht
aus dem Kreidekreis ziehen kann, weil sie es nicht zerreißen will, wird sie
noch kleiner, noch unscheinbarer, zur gepeinigten, hilflosen Kreatur. Ihren
endlichen Sieg empfinden wir als gerechten Triumph des Humanismus: die Kinder
den Mütterlichen. In der Regie von Wolfgang Fleischmann wird die epische
Abfolge, Grusches Flucht, dramatisch dicht, ebenso
die Stationen des durch die Lande ziehenden Azdak.
Die Gesänge (Hans-Dieter Schlegel, Christa Bergerec,
Janina Brankatschk und Peter Thomsen) wirken nicht
retardierend, vielmehr voranführend, auch dadurch, daß
die Haltungen der Sänger wechseln, koordiniert mit den Begebenheiten auf der
Bühne. Und dort wird ohne Maske agiert, was dem ursprünglichen Spiel dienlich
ist, das sich in dem poesievoll-sachlichen Bühnenbild Jan Hempels gut entfalten
kann. Hans-Dieter Schlegel — der kraftvolle, stattliche Sänger Arkadi Tscheidse — kommt anfangs der schlagfertige Witz des Azdak etwas schwer von der Zunge. Und wenn er sich reumütig
selbst der neuen Obrigkeit stellt, wird sein Motiv nicht recht plausibel. Doch
dann, unvermutet zum Richter gemacht, gewinnt dieser Azdak
Profil. Seine Errettung vom Galgen wird zur groß gespielten Wiedergeburt, nach
der er gereifter, wissender richtet, um Gerechtigkeit ringend. Und der Grusche rät er zu guter Letzt leise und kameradschaftlich,
das Weite zu suchen. Alles in allem arbeitet ein homogenes und jung wirkendes
Ensemble. Zahlreiche Darsteller waren notgedrungen doppelt besetzt, aber das
fiel nur anhand des Personenzettels auf. Majka Kowarjec gibt deutlich die blasierte Klassenbeschränktheit
der Natella Abaschwili,
Achim Wenk einen ungestümen fetten Fürsten Kazbeki.
Marja Ulbrichec gefällt als Hofmeisterin Nina und als
die Alte, Hannelore Torka als Makinä
Abakidse und Mütterchen Grusinien, Jurij Kostorz als Panzerreiter, Wirt und Anwalt Schuboladze. Blaß bleibt der
Simon von Jan Mahr. Mit dieser Inszenierung wurde das neue Haus des
Deutsch-Sorbischen Volkstheaters Bautzen würdig eröffnet, und es scheint, als
seien die Bautzener im Begriff, ihr
Theater für sich zu erobern. Die Bauarbeiter zumindest, skeptisch zunächst, als
es um Brecht ging, waren schließlich ein sehr dankbares Publikum. Und noch
dies: Vor rund zwei Jahrzehnten war Senftenberg unter Horst Schönemann zum
Inbegriff zielstrebiger Ensemblearbeit und junger, realistischer
Schauspielkunst geworden. Vielleicht ist es
voreilig, mich dünkt, in Bautzen bestehen günstige Voraussetzungen für
eine ähnliche Entwicklung.
Bleibt resümierend festzuhalten, daß
letztlich die weitere praktische Begegnung mit dem Werk Bertolt Brechts
erweisen muß, ob eher ein artifiziell demonstratives
oder ein mimetisch konkretes ursprüngliches Spiel heutiger Kommunikation mit
dem Dichter entspricht. Die vordergründige Didaktik des „Zeigetheaters"
jedoch ist unwiderruflich und ganz einfach konventionell.
Theater der Zeit, 9/1975