„Quai West“ von Bernard-Marie Koltès
in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin, Regie Wilfried Minks
Sind Erniedrigte auch komisch?
Jeder verreckt für sich allein. Mit diesem Satz begann ich meine Rezension, als Gert Hof 1992 Bernard-Marie Koltès Schauspiel „Quai West" in einer Bearbeitung Heiner Müllers an der Berliner Volksbühne inszeniert hatte. Ich empfand das Stück damals primär als eine Metapher für die menschenverschleißende, kalte Welt des Kapitals. Jetzt hat Wilfried Minks das nämliche Stück an den Kammerspielen des Deutschen Theaters herausgebracht. Und ich bin geneigt, mit der Behauptung zu beginnen: Jeder spintisiert für sich allein.
Letzterer Satz erfaßt freilich die
Befindlichkeit der Menschen, die der Autor zu nächtlicher Stunde in einer
leeren Lagerhalle am Kai von Manhattan aufeinandertreffen läßt, ebenfalls nur
unzureichend. Aber der Regisseur bediente, und das muß denn doch beachtet
werden, eine Forderung Koltès'. Der 1948 in Metz geborene, 1989 in Paris an
Aids verstorbene Dramatiker hatte behauptet, seine Stücke seien lustig. Tragik
könne nur aus der Komik entstehen. Und wenn nicht, sei es nicht tragisch,
sondern Kacke.
Dies Verdikt hat Minks ernst genommen.
Ihm gelingt tatsächlich, sozusagen aus allen Ecken und Winkeln dieser maroden
Lagerhalle - sprich Geldgesellschaft - Komik zu kratzen. Es ist eine
vertrackte, eine tragische Komik. Sie wird von Menschen geliefert, aus Menschen
gekitzelt, die eigentlich am Ende sind. Leute, die, weil sie mit der Welt nicht
zurechtkommen, einen Sparren locker haben. Mehr oder weniger. Was, bitteschön,
gar nicht verwundert. Ist es doch das Normale, das Übliche, das Gewöhnliche.
Wie herrlich weit hat es die Menschheit gebracht. Dank Koltès wird es einmal
mehr bewußt.
Da ist der Bankier Maurice Koch. Er hat sich
ein paar Millionen, auf die er hütend die Hand hätte legen sollen, einfach so
durch die Hände rinnen lassen. Nun ist er zum Hafen gefahren, um sich das Leben
zu nehmen. Horst Lebinsky gibt den Bankrotteur als eigentlich irgendwie
unschuldig. Obwohl er zunächst vergebens ins Wasser springt und wieder mit dem
Leben liebäugelt, hat er dann doch nicht das Herz, sich einem Gericht zu
stellen. Ziemlich kaputt ist auch Kochs Sekretärin Monique (Maria Hartmann),
die hoffte, den verschwundenen Millionen auf die Spur zu kommen. Sie hat kaum Gelegenheit,
irgendwie aktiv zu werden. In der Halle - übrigens von Bühnenbildner Wilfried
Minks ziemlich glaubhaft auf die Drehbühne gestellt - kriegt sie es, wie auch
Koch, mit den Ansässigen zu tun, den Armen und Obdachlosen, die auf Opfer aus
der oberen Klasse warten. Nicht, daß sie sie sofort und unbedingt ausrauben.
Nein, sie versuchen auf eine naive, eine spinnerte Art abzuzocken.
Der arbeitslose Charles (Sylvester Groth),
der kein Prolet sein möchte, den seine Mutter nicht Carlos nennen soll, der
gerissene kleine Dieb wittert das Geld und eine Chance, mit den noblen Herren Business
machen zu können. Er gibt dafür seine Freundschaft mit Abad preis, seinem
Kumpel, einem Neger (Dennis Rudge). Dieser Figur widmet Minks besondere
Aufmerksamkeit. Abad, der kein Wort spricht, der zunächst im dunklen Hintergrund
der Halle verharrt, der dann Koch aus dem Wasser holt, tritt als ein Symbol immer
deutlicher ins Zentrum. Eine unterdrückte Rasse rückt ins Bild! Schon Koltès
operiert hier mit einer gewissen Drohung, die spekulativ, aber freilich nicht
von der Hand zu weisen ist. Wann wird der schwarze Kontinent wirklich sein Haupt
erheben? Wann die Farbigen in den USA? Abad kriegt von Charles' Vater eine MP
in die Hand gedrückt. Er richtet sie nicht gegen Koch, aber gegen Charles.
Spätestens an dieser Stelle muß
vermerkt werden, daß des Dichters poetisierender Naturalismus aus den Nähten platzt,
weil er ihn mit Symbolen und Metaphern überfrachtet. Beispiel Cecile,
Charles' Mutter, eine Wilde. Sie ist mit ihrer Familie vor einem Krieg aus
ihrer Heimat geflohen, aber in ihrer neuen Heimat nie heimisch geworden. Nun,
verarmt, hofft auch sie, mit dem wie ein Geschenk Gottes auftauchenden Herrn
Koch ihren Schnitt machen zu können. Und das Bestürzende: Auch sie demütigt den
Neger! Symbol! Erbärmliche Hackordnung auf dieser Welt. Gudrun Ritter, der die
Cecile anvertraut ist, wurde von Kostümbildnerin Astrid Kirsten leider in solch
schönes, schneiderfrisches Folklore-Kostüm gesteckt, daß sich ihre urwüchsige
Indianerin darin fast verlor. Horst Hiemer als ihr geistig ramponierter Ehemann
Rodolfe war da realer kostümiert.
Koltès konstruierte nicht nur Symbole.
Er schrieb auch Szenen von hinreißender menschlicher Unmittelbarkeit. Da ist Claire,
die Schwester Charles', der sie eifersüchtig bewacht, aber gegen einen Autoschlüssel
ihre Unschuld tauscht. Und da ist Fak, der eben diesen Schlüssel von Kochs Auto
zu beschaffen wußte und der Claire beharrlich nachsteigt. Cathlen Gawlich und
Kay Schulze spielen ihre Szenen brillant. Sie eine zickige, herrlich naive, aber
selbstbewußte Kratzbürste. Er ein schon durchtriebener intelligenter junger
Gauner. Als er sie endlich herumgekriegt hat, benutzt er sie. Sonst nichts.
Erniedrigung des Menschen selbst in der Liebe.
Insgesamt ein phantasievoller, aber
zu wortreicher Abend. Zugegeben, Kürzungen hätten Sarkasmus, Lakonismus,
Lebensmüdigkeit aufkommen lassen. Jetzt wird alles Übel fein poetisch verbrämt.
Insofern war Gert Hof vor zwei Jahren gnadenloser bei der Wahrheit.
Neues Deutschland, 13. Dezember 1994