„Quartett“ von Heiner Müller im Berliner Ensemble, Regie Heiner Müller

 

 

 

Die Marquise im Bunker

 

Im Theater am Schiffbauerdamm... Pardon! Im Berliner Ensemble schickte der Dichter-Regisseur Heiner Müller die 84jährige Marianne Hoppe für sein Opusculum „Quar­tett" ins Rennen. Was galt es zu gewinnen? Literarischen Ruhm? Auf dem kann er sich ausruhen. Neue theatralische Provinzen? Das hält er für ausgeschlossen. („Gedacht wird nichts Neues. Die Welt entzieht sich der Beschreibung...") Oder vielleicht Marktanteile, sprich zahlungsfähiges Publikum, nachdem auf der „VIP-Schaukel" zwischen Ost und West kein Preis mehr zu holen ist?

Marianne Hoppe jedenfalls, UFA-Star, ehrwürdige Nestorin des deutschen Theaters, souveräne Dame noch immer, stand das Rede-Mysterium durch, servierte Müllers Gedanken-Kaskaden mit verhaltener Gebärde und mit kultivierter, gutbewahrter und einst bewährter Staatstheater-Diktion. Gustaf Gründgens, ihr Ehemann von 1936 bis 1946, damals Intendant des Hauses am Gendarmenmarkt, hätte seine helle Freude gehabt. Möglicherweise auch an der klassizistischen Manier dieser Müller-Kreation.

„Quartett" war vom Autor 1981 geschrieben worden - nach dem Briefroman „Gefährliche Liebschaften" von Choderlos de Laclos, der die moralische Fäulnis des Ancien regime offenlegte. Müller interessierte das Phänomen der „Endzeit" einer Epoche. Seine intrigante Marquise de Merteuil und sein Verführer Vicomte von Valmont agieren in einem Zeitraum, der mit „Salon vor der französischen Revolution/ Bunker nach dem Dritten Weltkrieg" umschrieben ist. Nach Verführung und Ermordung der Nichte, der Klosterschülerin Volanges, sowie Verführung und Tod der Präsidenten-Gattin Madame von Tourvel, konstatiert die Marquise de Merteuil: „Jetzt sind wir allein mein Geliebter."

Im Theater im Palast, wo der Text 1989 mit Vera Oelschlegel als Merteuil geboten wurde, entzog er sich fast jeglicher Kommunikation. Der vom Autor verordnete Geschlechtertausch (Valmont stirbt als Hure Tourvel) machte die Figuren zu Homunkuli. Im Deutschen Theater, wo Heiner Müller 1991 eine eingestrichene Fassung mit Dagmar Manzel und Jörg Gutzuhn vorstellte und auf den Rollentausch verzichtete, war erotische Dekadenz zu erleben.

Nun also neuerdings „Quartett", um einige markige Begriffe gekürzt (z. B. Schwanz, Krebs). In Zeiten der Restauration, in denen der deutsche Adel seine angestammten Schlösser und Landsitze im Osten wieder in Besitz nimmt, gibt Heiner Müller einen mehrfach verschlüsselten szenischen Kommentar. Gemeint in etwa: Herrschende Kasten sind morbid und pflegen sich selbst zu vernichten. Aber man muß sehr, sehr willig zuschauen.

In einem Betonbunker (Bühnenbild Hans-Joachim Schlieker), dessen Hinterseite sich wie ein Guillotine schließt, aber langsam, thront die Marquise de Merteuil (Marianne Hoppe), verziert mit hochtoupierter, bombastischer Rokoko-Perücke. Starr wie eine Mumie referiert sie kalt über das Leben, den Tod und den Geliebten. Gewesene Begierden. Sklaverei der Leiber. Dann betritt Valmont die Bühne. Mit Martin Wuttke relativ jung besetzt. Der Mann, ein Elegant nach dem neuesten Schnitt, ergänzt das geistreichelnde Salon-Geplätscher. Madame agiert inzwischen ohne Perücke. Zwei Dienstmädchen schneiden den Herrschaften symbolisch die Kehle durch. Aber standhaft referieren die Aristokraten ihre morbide Befindlichkeit weiter. Zeremonielles Bühnen-Brimborium um „das Nichts in mir. Es wächst und verschlingt mich".

Doch bevor es soweit ist, schickt Heiner Müller per Lautsprecher Wilhelm Müllers Müllerburschen (in der Vertonung von Franz Schubert: „Des Baches Wiegenlied") ins Rennen. Alles Müller oder was? Eine romantische Idylleform - „Opernfinale": Marianne Hoppe wie Walküre, aber zur Musik von Puccini, inmitten flankierender Flammen. Vor ihr der vergiftete, zu Tode sterbende Valmont, die Hure.

Dann im Theater am Schiffbauerdamm Licht auf die Brüste der Stuckfiguren im Saale. Auch auf den von Brecht rot ausgestrichenen preußischen Pleitegeier. Also doch noch Berliner Ensemble?

 

 

Neues Deutschland, 14.März 1994