„Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann an der Volksbühne Berlin, Regie Helmut Straßburger und Ernstgeorg Hering

 

 

Tragikomödie mit ironischen Untertönen

 

Eine muffige Mietskaserne — das „Rattenhaus" in der Berliner Voltairestraße um 1885 — das ist der Handlungsort für Gerhart Hauptmanns Tragikomödie. Auf dem lichtlosen Dachboden der Fundus des ehemaligen Theaterdirektors Hassenreuter, im zweiten Stock ein graugetünchter Kasernenraum, der jetzt Wohnzimmer des Ehepaares John ist.

Berührt es uns noch, das verlöschende Leben der Arbeiterfrau John? Ein fremdes Kind gibt sie als ihr eigenes aus, um ihren Mann wieder an sich zu binden. Aber das Dienstmädchen Pauline Piperkarcka fordert sein Kind zurück. Die John hetzt ihren verkommenen Bruder Bruno auf das Mädchen. Er bringt sie um. Das Verbrechen wird ruchbar. Die John begeht Selbstmord.

Hauptmanns 1911 glücklos uraufgeführtes Stück ächzt zwar noch immer in den Scharnieren seiner Dramaturgie, aber seine Gestalten bewegen sich als vollendete Geschöpfe ihres Dichters. Er zeichnete Schicksale der Bewohner und Nutzer dieser ehemaligen Kavalleriekaserne. Und die Brüchigkeit des Hauses wird zum Symbol für die Morschheit des kaiserlichen deutschen Reiches.

Die Regisseure Helmut Straßburger und Ernstgeorg Hering legen das Ehepaar älter an als es sich Hauptmann vorgestellt hatte. Er sah in der John eine Frau in Mitte der Dreißig. In der Darstellung von Susanne Düllmann wirkt sie dagegen von vornherein merklich gealtert. Die hastende, gehetzte John der Düllmann überzeugt, wo sie taktiert, kämpft. Sie bleibt einiges schuldig, wo sie leidet, wo lastende Beklommenheit aufkommen müßte angesichts der Ungeheuerlichkeit, in die sie sich verstrickt und an der sie zerbricht.

Ihren Mann, den Maurerpolier John, gibt Wolfgang Dehler breit und behäbig, auch in der Raserei fest in sich gegründet, ein reformistischer Stehkragenproletarier, dem die bürgerliche Moral heiliger ist als das Wohl seiner Frau. Margrit Straßburgers Pauline ist vor allem anfangs von angestrengt-äußerlicher Theatralik, von der sie sich leider nie ganz löst.

Sehenswerte schauspielerische Leistungen auch in weiteren Rollen des turbulenten Geschehens im „Rattenhaus": Hervorragend Astrid Krenz als Prostituierte Selma Knobbe. Ein herumirrender kleiner Flederwisch, energiegeladen, Fußtritte austeilend, sich keß anbietend, notgedrungen verschlagen, abgehärmt, erbarmungswürdig. Dann Heide Kipp als Mutter der Selma, eine deklassierte Adlige. Unter der Verkommenheit aufleuchtende Würde, unheimliche Grandezza. Matthias Günthers Pfarrersahn Erich Spitta fällt auf, ein aufgewühlter zorniger junger Mann, eingeschnürt noch ins Korsett seiner preußisch-strengen Erziehung, ausbrechend aus dem Bannkreis des Vaters. Und Jürgen Rothert als Bruno Mechelke. Ein skurriler Sonderling zunächst, ein Häufchen Unglück nach der Tat, ruhelos, entnervt zitternd, in Galgenhumor flüchtend.

Zu nennen sind noch Werner Tietze (Pastor Spitta), Ezard Haußmann (Hassenreuter), Hildegard Alex (Alice Rütterbusch), Harald Warmbrunn (Hausmeister Quaquaro) und Jürgen Heidenreich (Bühnenbild und Kostüme).

Die immerhin vierstündige Aufführung weiß durchweg zu interessieren, hat dynamische Spannung, die nur im unvermeidlichen Tumult des letzten Aktes unpräzise wird. Erschütterung kommt nicht auf. Das Komische, mit leiser Ironie genommen, bricht das Grausen immer wieder, läßt uns in gelöster Distanz zuschauen. Dennoch sind uns Hauptmanns Menschen nah. Sie gehören zur Geschichte Berlins — und schon darum just auf den Spielplan der Volksbühne.

 

 

Neues Deutschland, 22. April 1985