„Reigen“ von Arthur Schnitzler am Deutschen Theater Berlin, Regie Jürgen
Gosch
Amouren bleiben Amouren
Diesem „Reigen" am Deutschen Theater in Berlin, der jüngsten Inszenierung Jürgen Goschs, fehlt für Auguren möglicherweise der durchweg originale Wiener Tonfall, ja die eigentliche Schmäh des Österreichers Arthur Schnitzler (1862-1931). Mich überzeugt die grundierende Spröde, das sachlich Gediegene, auch das analytisch Gründliche, womit hier Charaktere psychologisch feinsinnig und ergötzend auf die Bühne gebracht wurden.
Was mir besonders gefiel: Gosch weiß die verschiedenen Liebes-Affären
quer durch alle gesellschaftlichen Schichten geschmackvoll vorzuführen. Täuschungen
und Enttäuschungen der Partner. Erniedrigung der Frau. Bloßstellung des Mannes.
Doch nichts Grobianisches. Nichts Schmieriges. Keine überflüssige Nacktheit. Der
menschliche Trieb als Geschenk der Natur, mächtiger als die Ehe und alle
Konvention. Nicht Melancholie und Sentimentalität also, sondern fröhliche
Ironie und unbedingte Lebenslust. Das gesellschaftliche Gehabe der Figuren und
ihre seelischen Drangsale nicht vordergründig sozialkritisch vorgeführt,
sondern mit Augenzwinkern, mit kecker Laune.
Unbefangener Umgang mit den zehn erotischen Dialogen ist rund 100 Jahre
nach ihrer Entstehung nun allerdings zu erwarten. Die Uraufführung der Texte
aus den Jahren 1896/97 im Großen Saal der Hochschule für Musik in der Hardenbergstraße
in Berlin erfolgte 1920 trotz Verbot (Alfred Kerr: „Zum Beginn und zum Schluß
erschien die Prinzipalin, Frau Eysoldt. Sie trug mit Recht ihre Klage wider
die Polizei vor die Anwesenden."). Die Folge war der sogenannte „Reigen-Prozeß"
gegen Direktion, Regisseur und Schauspieler wegen „unzüchtiger
Handlungen". In Wien kam es im Februar 1921 zu antisemitischen
Ausschreitungen gegen Stück und Autor. Weitere Aufführungen in den Kammerspielen
des Deutschen Volkstheaters wurden verhindert. Angesichts der Vorkommnisse in
Berlin und Wien entschloß sich Schnitzler neue Inszenierungen nicht zu
erlauben. (Allerdings kam es zu französischen Verfilmungen durch Max Ophüls
1950 und Roger Vadim 1964). Erst 1981, 50 Jahre nach dem Tod des Vaters, gab
der Sohn das Werk wieder frei. Alsbald folgten Aufführungen: 1982 am Berliner
Schiller Theater, 1983 am Wiener Burgtheater, 1986 am Züricher Schauspielhaus.
Die Szenen über den „Sexus in Aktion", zeigt sich, sind
lebendiger denn je. Die bürgerliche Gesellschaft hat alle ihre moralisierenden
Hüllen fallen lassen. Der grotesk-komische Reigen zwischen Moral und natürlichem
Verlangen wird in aller Öffentlichkeit getanzt. Nun hat Gosch die Figuren nicht
gewaltsam ins Heute gequält. Er hat sie, womit er gut tat, im Wien der
Jahrhundertwende belassen. In ihrem scheinbar nostalgischen Treiben, ihrem
Hunger nach Liebe und Sex, findet sich Vertrautes auch aus der Gegenwart. Amouren
bleiben Amouren.
Das Liebesspiel jedes Paares ist so dezent wie stimmig:
Dirne (Claudia Geisler), Soldat (Christian Kuchenbuch), Stubenmädchen
(Franziska Hayner), junger Herr (Michael Maertens), junge Frau (Katrin Klein),
Ehemann (Thomas Neumann), süßes Mädel (Susanna Simon), Dichter (Christian
Grashof), Schauspielerin (Simone v. Zglinicki), Graf (Michael Maertens) und
Dirne. Der szenische Pfiff des Reigens, jeweils himmlisch ausgespielt: Das
„Vor" und das „Nach" des Ereignisses, zu welch selbigem stets
taktvoll abgeblendet wird. Das segmentiert zwar den Abend zusätzlich, schafft
aber hinreichend Spielraum für Phantasie im Parkett.
Hervorzuheben aus dem glänzend aufgelegten Ensemble:
Claudia Geisler als armselige, herzhafte Dirne. Susanna Simon als wild
impulsives, urwüchsig direktes, strotzend vitales süßes Mädel. Simone von
Zglinicki als mal herrschsüchtige, mal schmachtende girrende Schauspielerin.
Und Michael Maertens als possierlich verkrampfter junger Herr sowie als
amüsant introvertierter Graf. Hervorzuheben übrigens auch Sternenhimmel und
Uferpromenade mit Donau des Bühnenbildners Donald Becker.
Neues Deutschland, 18. April 1994