„Richard III.“ von Shakespeare am Berliner Schlosspark-Theater, Regie Heribert Sasse

 

 

 

 

Leutnant Gustl im falschen Stück

 

Wenn in Berlin ein Theater nicht geschlossen, sondern gegründet wird, ist dies zunächst einmal ein erfreuliches Ereignis. Selbst wenn es dazu dient, die kulturpolitischen Frevel des Senats zu kaschieren. Die Hautevolee war denn auch zahlreich erschienen, um Heribert Sasses Eröffnung des Steglitzer Schloßpark-Theaters als Privattheater den öffentlichen Glanz zu geben.

Warum Sasse ausgerechnet mit Shakespeares „Richard III." loslegen mußte, ist schwer zu begreifen. Wahrscheinlich wollte dieser ehrgeizige Theatermann, von 1985 bis 1990 Generalintendant des Schiller- und des Schloßpark-Theaters, sich endlich einen Lebenswunsch als Schauspieler erfüllen, nämlich einmal den legendären mörderischen Bösewicht spielen. Aber damit disponierte er sich zum Auftakt einen Flop - als Theaterleiter, Regisseur und Schauspieler.

Shakespeare, von Pavel Kohout zum Kammerspiele-Dichter präpariert, läßt einen schon stutzen. Aber irgendwie mußte das Drama schließlich für die kleine Bühne zurechtgelegt werden. Und warum sollte nicht, wenn auch in gekürzter Fassung, beispielsweise vor allem der zynische, redegewandte Intellekt des Herzogs von Gloster, dieses brutalen Renaissance-Menschen, in intimer Räumlichkeit spielerisch vorgeführt werden. Das Bühnenbild Tina Carstens, ein abstraktes, dunkelrot getöntes Burginneres, hätte dem nicht im Wege gestanden. Doch leider ist allenfalls von etwas Dialog-Regie und ansonsten von einem Abend gehobenen Laienspiels zu berichten.

Eine für die En suite-Inszenierung engagierte vorwiegend junge Truppe redete in Sachen Shakespeare aufeinander ein, ohne zu wirklichem Zusammenspiel zu kommen. Und dazwischen herum spazierte ein selbstgefälliger Sasse als Richard III., anfangs hinkend, später mobil zu Fuß, quetschte und quäkte die Vokale seines Textes bis zur Unverständlichkeit und erhaschte kaum auch nur ein markantes Merkmal der Figur, geschweige denn des Charakters. Vielleicht wollte er den historischen Richard kreieren. Der soll ja weit harmloser als der des Dichters gewesen sein. Letztlich lieferte Sasse einen umgänglichen Bürger von gemütlicher Saturiertheit, der mal eben aus Spaß mordet und nach der Macht greift. Immer wieder schien es, als sei Schnitzlers Leutnant Gustl aus der k.u.k.-Monarchie ins falsche Stück geraten.

Sasse ist nicht einen Moment in der Lage, die Ungeheuerlichkeit der Vorgänge in die Geste und in die Stimme zu kriegen. Abrupte Gebärden, plötzliche Zugriffe da oder dort, etwa in Elisabeths Schoß, hält er für bösewichtig. Einen Hauch von Heuchelei immerhin läßt er spüren, wenn er Londons Bürger betrügt. (Auf die sagenhafte bischöfliche Weihe ist verzichtet! So engherzig hat ihm Kohout den Shakespeare ausgelegt.) Sich als soeben gekrönter König leger in den Rollstuhl-Thron zu lümmeln, bietet Sasse als Inbegriff siegreichen Machthungers. Der eitle Salontyrann kommt denn auch nicht in eine existentielle Krise. Die unheilschwangere Erscheinung der Geister seiner Mordopfer auf dem Schlachtfeld hat er sich ohnehin erspart. Theaterbebend ruft er noch nach dem berühmten Pferd. Dann verendet Sasses Richard, vom Dolch Richmonds durchbohrt, nicht ohne vorherige letzte tragische Regung. Dunkel. Vorhang. Schluß.

Ein völlig ausgebrannter, ideenloser Regisseur hat sich maßlos überhoben. Ein nennenswerter Einfall: Den Kanzellisten (Till Sarrach) läßt er im Zuschauerraum mit einem Stoß Akten vor die Rampe treten und sein „Schlimm ist die Welt, sie muß zugrunde ge­hen..." verkünden. Da ist auf einmal eine Ahnung von dem im Raum, was Shakespeare noch immer und immer wieder so aktuell macht; dessen gnadenlose Ausforschung menschlicher Abgründe. Denn mörderische Diktatoren hat es nach wie vor auf dieser Welt. Und Richard III. gehört sehr wohl auf deutsche Bühnen. Aber nicht als dilettantisch erzähltes Bildungsgut. Unbewußte Hybris eines Theaterbesessenen hat freilich etwas Rührendes. Wer es nicht glaubt, pilgere nach Steglitz ins Schloßpark-Theater.

 

 

Neues Deutschland, 20. März 1995