„Rosmersholm“ von Henrik Ibsen an den Kammerspielen des
Deutschen Theaters Berlin, Regie Herbert Olschok
Ehemaliger Pfarrer in politischen Turbulenzen
Ein gewaltiger Mond prangt am nächtlichen Himmel und wirft sein Dämmerlicht auf Rosmersholm, den Stammsitz eines uralten nordischen Adelsgeschlechts, auf dem nie gelacht wird. In schwungvoll ovaler, großzügig symbolischer Kulisse (Bühnenbild Olaf Altmann) geht es in den Kammerspielen des Berliner Deutschen Theaters allerdings anregender zu, als bei diesem komplizierten psychoanalytischen Drama Henrik Ibsens (1828-1906) zu vermuten ist. Regisseur Herbert Olschok, immer gut für hellwaches sozial-psychologisch präzises Theater, entwirft ein dezent tragikomisches Lebensbild mit überraschend aktuellen Akzenten.
Johannes Rosmer, der Hausherr, ist ein ehemaliger Pfarrer. Er hat sein kirchliches Amt aufgegeben und gedenkt, sich politisch einzumischen. Weil Radikale an der Macht sind. Er träumt davon - welch romantischer Idealist! -, alle Menschen zu »Adels-Menschen« zu läutern. Seine Standes-Freunde am Ort, ihnen voran sein Schwager, Rektor Kroll, sind skeptisch (Kroll: »Und du meinst, die können das?«). Als er fest zu seiner freisinnigen Anschauung steht, gar mehr Demokratie einfordert, starten sie in der Presse eine Kampagne gegen den Abtrünnigen. Heutzutage würden sie sich des »Spiegel« bedienen oder der »Bild«-Zeitung, je nachdem; damals genügte das »Amtsblatt«.
Bislang hatte auch Kroll unter den Teppich gekehrt, worüber gemunkelt
wurde, nämlich über ein Verhältnis des Witwers Rosmer zur Freidenkerin Rebekka
West, die als Gesellschafterin auf Rosmersholm weilt. Jetzt nutzt der Schulleiter
den Jahre zurückliegenden Selbstmord seiner Schwester, Rosmers Frau Beate, für
seine Angriffe. Und wie das oft ist bei rufmörderischer Hatz - ein Funken
Wahrheit ist dran an der Behauptung, letztlich hat die in Johannes verliebte
Rebekka egoistisch dessen kinderlose Frau in den Wahnsinn und in den Mühlbach
getrieben.
Wabernde Ungewißheit. Der Dichter verlegte seine Story
sehr, sehr nahe an das todbringende Wasser und den schwankenden Steg darüber.
Das nach wie vor platonische, rein geistige Verhältnis zu Rebekka, das dem
erotisch verklemmten Rosmer zum Verhängnis wird, empfindet man heute - ein
Jahrhundert nach Entstehung des Dramas - als höchst unwahrscheinlich. Aber
Regisseur Olschok krittelt nicht an den Figuren herum. Er zeigt - ein wenig ins
Symbol verfremdet - widersprüchliches Leben und entdeckt bei der Gelegenheit
hinter verworrenen psychischen Zwängen (wie groß ist Rebekkas Schuld?) den
knallhart politischen Fall. Dies mit Schauspielern von ausdrucksvoller Körperlichkeit.
Rosmer ist bei Christian Grashof die liberal adlige
Lauterkeit in Person. Nervosität befällt Johannes, wenn ihn Rebekka drängt, dem
Kroll endlich reinen Wein einzuschenken über seine Abkehr von den ehemaligen
Gesinnungsfreunden. Geradezu mit Händen und Füßen sträubt er sich, ins alte
politische Lager zurückgezogen zu werden. Da versucht einer, seiner Kaste zu
entfliehen, neue Ufer zu erreichen, den Menschen näher zu kommen. Aber er hat
den Mut nicht, wird sich in komisch-ironischer Selbstbetrachtung sogar seiner
Schwächen bewußt. Immerhin hat er das Herz, Rebekka zu fragen, ob sie seine
zweite Frau werden will.
Leider bleibt - schon beim Autor -ziemlich offen, weshalb
Rebekka sich verweigert. Katharina Linder gibt eine gar nicht auf körperliche
Nähe, sondern auf geistige Vertrautheit orientierte aparte junge Frau. Von ihr
erwartet man logische Reaktion statt Konfusion. Ist Inzest im Spiel mit Dr.
West, Rebekkas Adoptivvater, wie Kroll behauptet? Sühne also nach gestrengem
Moralkodex? Tief verstrickt ist der Mensch in soziale Konventionen. Ibsen
bietet den Tod als Perspektive. Regisseur Olschok aber schickt Johannes und
Rebekka nicht in den Mühlbach, sondern läßt beide eine nächtliche Pantomime
hinlegen, wie man sich am besten gegenseitig vom Sprung ins tödliche Wasser
abhält. Die bis dahin verständnisvolle, verhalten komische Spielweise des
Abends droht im letzten Moment zu versagen. Doch das Pathos eines gemeinsamen
Selbstmordes wäre ganz und gar unerträglicher Kitsch gewesen!
Und der Verursacher von all dem, Rektor Kroll, der
spießige Biedermann, der die Privilegien seiner Kaste bedroht sieht? Thomas
Neumann bringt einen tadellos gekleideten Beamten auf die Bühne, immer mit
Rohrstock unterwegs, scheinheilig ehrwürdig bis in die rostige Stimme. Der
herrschsüchtige Mann argumentiert äußerst zuvorkommend und korrekt, wie das
Leute zu tun pflegen, die meinen, »Recht« und »Demokratie« für alle Zeiten
gepachtet zu haben. Mit Mortensgard (Jürgen Huth) legt er sich an, dem
Redakteur des linken »Blinkfeuer«, und mit Brendel (Günter Zschäckel), dem
altklugen Bohemien. Haushälterin Helseth (Katrin Klein) weiß sich ihm zu
entziehen und überhaupt dem Leben mit trockener Chuzpe zu begegnen.
Durchaus ein Höhepunkt in dieser bisher eher tristen Berliner Spielzeit.
Herbert Olschok macht neugierig auf Menschen. Kostbar heutzutage.
Neues
Deutschland, 14. März 1997