„Vor dem Ruhestand“ von Thomas Bernhard am
Deutschen Theater Berlin, Regie Friedo Solter und Michael Jurgons
Fossil im grellen Licht der Bühne
Zum Spielzeitauftakt im Deutschen Theater: „Vor dem Ruhestand", ein Stück des 1931 in Holland geborenen österreichischen Dramatikers Thomas Bernhard. Die Inszenierung reiht sich ein in eine Programmlinie des Deutschen Theaters, die mit Aufführungen wie Bechers „Winterschlacht" oder Kipphardts „Bruder Eichmann" auf vielfältige Weise bewußt machen will, daß es eine aktuelle Aufgabe im Friedenskampf bleibt, wachsam zu sein und den Faschismus in allen seinen Erscheinungsformen zu entlarven.
Bernhards 1980 in Bochum uraufgeführtes
Schauspiel „Vor dem Ruhestand" führt in das Haus des ehemaligen
SS-Offiziers Rudolf Höller. Dieser Mann, der als stellvertretender Kommandant
eines Konzentrationslagers Häftlinge erschossen hatte, war nach Kriegsende von
seiner Schwester Vera zehn Jahre versteckt worden, dann in Westdeutschland
wieder aufgetaucht und hatte dort Karriere als Gerichtspräsident und
Abgeordneter gemacht. Jahr für Jahr schwelgt er zu Himmlers Geburtstag in Erinnerungen,
quält seine jüngere Schwester Clara, die das Opfer eines angloamerikanischen
Bombenangriffs wurde und seitdem an den Rollstuhl gefesselt ist, mit Perversionen.
Noch vierzig Jahre nach dem Krieg, kurz vor
dem Ruhestand als Beamter, hält er verbissen an seiner faschistischen
Überzeugung fest, trinkt auf seine braunen Vorbilder. Diesmal übernimmt er sich
und bricht zusammen. Womit ein beklemmend makabrer Abend, eine wahre
theatralische Tortur zu Ende geht.
Bernhard nennt seinen Einfall — wohl sarkastisch — eine „Komödie". Die Regisseure Friedo Solter
und Michael Jurgons ließen sich darauf nicht ein, sondern deckten distanziert
die erbärmliche, bornierte Selbstgerechtigkeit dieses Fossils und seiner
Schwester Vera auf. Unterstützt wurden sie dabei von Bühnenbildner Hans-Jürgen
Nikulka, der verschlissenen bürgerlichen Wohlstand assoziierte, und Maskenbildner
Wolfgang Utzt, der den Gesichtern Geschichte gab. Gespenstisch das Wachsfigurenkabinett
des letzten Aktes, wenn Höller zum letzten mal von großen Zeiten faselt.
Klaus Piontek spielt den Höller als einen
zunächst noch agilen Mann mit zerquältem Geschäftsetagen-Gesicht: eine Maske, hinter der die Züge mühsam zurückgehaltener Brutalität und Menschenverachtung
schließlich hysterisch hervorbrechen.
Inge Keller zeigt die Vera als eine herzige
Alte mit jungmädchenhaftem, zickigem Gehabe und von haßerfüllter Bosheit gegenüber
der Schwester. Christine Schorn gibt die beeindruckende Studie der im Rollstuhl
gealterten Clara. Für Bernhard, dessen Stücke zumeist Sinnbilder für die
physische Verkümmerung und psychische Aushöhlung des Menschen in der
Monopolgesellschaft sind, bildet diese Gestalt eine Ausnahme: eine geistig wache
Frau, die durch jahrelange unverdrossene Lektüre eine schwache Ahnung von
möglicher sozialer Alternative bekam. Aber auch sie ist — hier zeigen sich deutlich
die Grenzen des Stückes und des Autors — zur Wehrlosigkeit verurteilt.
Neues Deutschland, 30. September 1986