„Die kahle Sängerin“ von Eugène Ionesco am
Berliner Ensemble, Regie Elisabeth Gabriel
Banalität auf der Schippe
Letztlich ließ sich Gröben leichter finden, als vermutet. Die Straßen ab Behelfsausfahrt Autobahn Ludwigsfelde waren überraschend gut ausgeschildert. Durch Wälder und vorbei an verschwiegenen Seen gelangt man in ein Brandenburger Dorf mit imposanter alter Kirche, intaktem Reithof und liquidierter LPG. Als ich unter den Linden am Gasthof Naase ausstieg, schwadronierten über mir Tausende Stare in Aufbruchstimmung. Eine Bachstelze wippte über das Kopfsteinpflaster. Die Kirchturmuhr zeigte Viertel nach 10.
Hier also eröffnet das Berliner Ensemble seine Spielzeit
1994/95! Das interessiert vielleicht die Berliner. Aber die Dorfbewohner? Ich
fragte eine vermeintliche Bäuerin, die, offenbar zu würdigem Anlaß gekleidet,
ihr Haus verließ. „Ja", sagte sie, „da gehen Leute hin. Die vom BE sind ja
schon oft hier gewesen. Ich trinke meine Selters und dann schaue ich zu."
300 Einwohner etwa zählt Gröben. Tatsächlich, der Saal ist gefüllt. Frau Naase,
die Chefin des Gasthofes, freut sich. Es sitzen nicht nur Hauptstädter hier.
Der Raum atmet Vergangenheit. Links neben der Nudelbrett-Bühne thront ein uralter
großer eiserner Ofen. Alte, verblichene Tapeten. Prosaische Leuchten. Ich
erinnere mich an Auftritte von Musik- und Schauspiel-Studenten in Mecklenburger
Dörfern. Damals, als eine neue Zeit angebrochen war. Oft wurde an der Theke
noch Bier ausgeschenkt, wenn die jungen Spieler schon begonnen hatten. Ich
erinnere mich auch an ein Gespräch mit Helene Weigel. Sie erzählte mir, wie sie
vor 1933 mit minimaler Ausstattung in Wirtshaus-Sälen Brechts „Mutter" aufführten.
Wenn vorn die Polizei hereinkam, mußte man hinten mit Sack und Pack verduften
können. Politische Aufklärung. Hinweis auf soziale Widersprüche. Glaube an
menschlichen Fortschritt. Und heute?
Der Programmzettel verrät: Eine neue Truppe des BE stellt sich vor.
Schauspielerinnen und -spieler aus München, Stuttgart, Zürich, Wien, Salzburg,
Bochum, Hamburg, allesamt Peter Zadek vertraut, probieren sich aus an Eugène lonescos
Anti-Stück „Die kahle Sängerin". Also: irgendwie auch Aufklärung. Aber in
Sachen absurde Wirklichkeit. Nachhilfe in punkto Abstumpfung menschlicher
Beziehungen unter bürgerlichen Verhältnissen. Kein Glaube mehr an Fortschritt.
Gewißheit der Stagnation. Auf die theatrale Schippe genommen allerdings.
Der in Rumänien geborene, in Frankreich lebende Autor hatte
1948/49 die trivialen Wahrheiten seines Lehrbuches für englische Konversation dramatisiert.
So gewannen Erkenntnisse wie „Auf dem Land ist es ruhiger als in der Großstadt"
komisches Bühnenleben. Zwei Ehepaare konversieren geistlos, ein Feuerwehrmann
entfacht in ihnen eine kurze banale Leidenschaft und das Dienstmädchen mischt
sich penetrant ein.
Zadeks Assistentin Elisabeth Gabriel führte Regie und
suchte nicht distanziert nach spröder Vereinzelung, sondern setzte einfühlend
auf treuherzig-munteres Miteinander. Am besten kam damit Knut Koch als Mr.
Smith zurecht. Er hatte eine gute Sensibilität für die gottvoll skurrile Unbedarftheit
dieses Ehemannes. Wenn er Plattheiten mit heiligem Pathos laut verkündet, aber
auch, wenn er vorsichtig aufmüpfig und leise argumentiert, trifft er die
komische Absurdität des Stückes vorzüglich. Elisabeth Ebeling (Mrs. Smith),
Ulrich Hoppe (Mr. Martin), Nicola Lembach (Mrs. Martin), Ursula Stampfli
(Dienstmädchen) und Wolfgang Schneider (Feuerwehrhauptmann) agierten, schien
mir einschichtig. Sie schafften es nicht, den offenkundigen Nonsens auch noch zu
verinnerlichen.
Neues Deutschland, 12. September 1994