Anmerkungen zur Berliner Schauspiel-Saison
1993/94
Theater zwischen Opposition und Konformität
Die Berliner Theater-Saison 1993/94 ist vorüber. Auffallend häufig in deren Verlauf: ästhetisierende, mehr oder weniger kurzweilige Regie-Spielereien. Luc Bondy mit „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten" von Peter Handke in der Schaubühne. Robert Wilson mit „Alice im Bett" von Susan Sontag ebenfalls für die Schaubühne. Christoph Marthaler mit „Sturm" nach Shakespeare an der Volksbühne. Heiner Müller mit seinem „Quartett" am Berliner Ensemble. Klaus Michael Grüber mit „Splendid's" von Jean Genet an der Schaubühne. Dies die Spitzen des Trends.
Was gaben die Sprech-Bühnen ihren
Zuschauern zu bedenken? Ihre Aufführungen, sofern sie künstlerisch aufmerken
lassen, ergötzen ja nicht nur, sie regen auch zum Denken an. Kein noch so konservativer
Zeitgeist kann diese Eigenart der Schauspielkunst abwickeln. Aber Bondy,
Wilson, Marthaler, Müller und Grüber hatten, scheint es, wenig Ehrgeiz. Denn
Genets Information beispielsweise, daß der bürgerliche Held zum Kriminellen
verkommen ist, erfährt der Bürger heutzutage tagtäglich von den
Groschen-Blättern.
Wucherten die hauptstädtischen
Bühnen dennoch mit ihren ureigenen Mitteln? Leisteten sie Widerstand gegen die
schleichende Faschisierung Deutschlands? Stellten sie sich den sozialen
Problemen im Lande? Unterschieden sich ihre Angebote von den Haßarien, mit
denen andere bürgerliche Medien die liquidierte antikapitalistische deutsche
Republik nach wie vor verleumden? Hoben sich ihre Anregungen ab von der
seelischen Verrohung und der geistigen Verdummung, mit denen das Fernsehen
die Wohnstuben der Steuerzahler tagtäglich ziert? Mit anderen Worten: wirkte
das Theater zeitkritisch mittels seines ihm eigenen objektiven Realismus?
Wahrheit im Theater! Jüngst danach befragt, erklärte der
Engländer Peter Brook, der Nestor europäischer Regiekunst, Theater schaue
hinter das, was im täglichen Leben als Wahrheit angesehen werde. Es zeige die
Widersprüche in den vermeintlichen Wahrheiten auf und entlarve die Halbwahrheiten.
Und insofern befinde es sich in ständiger Opposition zu jeglicher politischer
Lehre. Auf diese Weise mache es den Zuschauer empfänglicher für die
Komplexität der Realität und helfe ihm, eigene Entscheidungen zu treffen.
Brook mithin hält unverdrossen an der elementaren Mission des Theaters fest.
Übrigens auch Arthur Miller. Aber der Nestor der amerikanischen
Dramatik signalisiert die Auszehrung des Sprechtheaters. Er sieht, wie die
„Mickey Mouse-Kultur", eine Inflationierung der Bilder, gemacht für den
manipulierten Durchschnittsbürger, zunehmend den Broadway beherrscht. Und das
Sprechtheater, sagt er, wird in die Seitengassen verdrängt. Eben diese
Entwicklung scheint auch in Deutschland nicht aufzuhalten zu sein. Das Schiller
Theater zumindest ist für die Dramatik verloren. Selbst das Theatertreffen,
das neuerdings jeweils im Mai dort stattfinden soll, wird mangels Bonner Finanzhilfe
höchstwahrscheinlich vom Amüsement abgelöst werden, das Musical-Unternehmer
Peter Schwenkow dort anzubieten verspricht.
Und im Schlosspark-Theater wird Neo-Intendant Heribert Sasse erst einmal
beweisen müssen, daß er mehr auf die Bretter zu bringen vermag, als reines
Theaterfeuer. Wobei ich finde, daß die Brecht-Erben gut daran täten, dem Sasse
den „Ui" zu gestatten. Zumal zum Thema ein Defizit registriert werden muß.
Nichts ist wünschenswerter, als daß in diesen restaurativen Zeiten zwei Berliner
Bühnen mit Brechts antifaschistischem Stück „Der aufhaltsame Aufstieg des
Arturo Ui" in die Öffentlichkeit kommen. Rolf Hochhuth, der Streiter für
dokumentarisches Theater, der Zusammenarbeit mit Arthur Miller angekündigt
hatte, ist schon in die Seitenstraße verdrängt. Er darf im Saal der ehemaligen
DDR-Volkskammer in der Luisenstraße Theater machen. Was allerdings den Reiz
seiner Produktionen erhöhen könnte.
So führt ein Rückblick auf die vergangene
Saison zwangsläufig erst einmal zur Politik, zu den Geldgebern, zu den
Strategen im pinkschwarzen Senat, die jeweils am Ende einer Spielzeit ihre
kulturhistorischen Zeichen zu setzen pflegen. Vor einem Jahr schlossen sie
aus finanziellen Gründen drei Bühnen. Dieses Jahr offenbarten sie, welche möglichst
kostengünstige Lustbarkeit sie dennoch dort gern hätten. Es ist nicht zu
übersehen: Sie wünschen, daß im Theater weniger nachgedacht wird. Und nichts liefert
der Kommerz gewisser, als Ablenkung von Politik und Staatsverdruß.
Wie also hielten es die Berliner Bühnen mit
ihrer Verantwortung für die Wahrheit? Ich muß das noch einmal betonen: Die
individuell geleiteten Theater lassen sich nicht so leicht gleichschalten wie
Fernseh-Stationen. Der Trend zu unverbindlicher, ästhetisierender Spielerei
ist leider zwar schon unverkennbar und offenbar unaufhaltsam. Aber noch immer
ist das Theater in Deutschland das einzige Medium, mit dessen Mitteln soziale
Prozesse aus Geschichte und Gegenwart ohne böswillige Verleumdung und bewußte
Verdrehung wahr abgebildet und verhandelt werden können. Allein die
ideologischen Vorgänge um den Jahrestag des Attentats auf Hitler und das bei
der Gelegenheit praktizierte Ausklammern und Diffamieren des opferreichen
historischen Widerstandes der Kommunisten zeigen das bereits erreichte Ausmaß
der offiziell angesagten Heuchelei.
Angesichts dieses obwaltenden Zeitgeistes
war der Schritt des Berliner Hansa-Theaters in Moabit geradezu eine Sensation.
Klaus J. Rumpf inszenierte an dieser Privatbühne mit beachtlichem Erfolg die
Uraufführung der Komödie „Don Camillo & Peppone" von Sabine Thiesler
nach dem gleichnamigen italienischen Film. Beispiel westeuropäischer
Normalität auf deutscher Bühne. Der katholische Pfarrer Don Camillo
(Hans-Werner Bussinger von umgänglicher Robustheit) und der kommunistische
Bürgermeister Peppone (Klaus Sonnenschein mit fülliger Gemütlichkeit) rauften
sich um das Wohl ihrer Dorfgemeinde. Produktivität entstand aus schier
unvereinbar scheinender Gegensätzlichkeit. Und das Publikum vom Kiez hatte
seine helle Freude daran.
Aktuelles zeitkritisches
Theater ist abhängig von der Streitbarkeit seiner Dramatiker. Sabine Thiesler
reagierte zeitfühlig. Allgemein jedoch scheinen die deutschen Stückeschreiber
den heimlichen Aufbruch Deutschlands in seine reaktionäre Vergangenheit
regelrecht zu verschlafen. Theater jedenfalls, so sie zu diesem Thema zeitnah
sein
wollten, mußten sich selbst helfen. Eigene Kreationen, Rückgriffe auf
Vorhandenes,
Kompilationen.
Höhepunkt der Saison, politisch aufrüttelnd,
künstlerisch perfekt: Johann Kresniks „Rosa Luxemburg - Rote Rosen für
dich" nach einem Libretto von George Tabori an der Volksbühne. Klage und
Aufschrei angesichts der tragischen Ohnmacht linker proletarischer Bewegung.
Hochmotiviert die Truppe. Rosa in mehrfacher Besetzung: Sophie Rois, Walfriede
Schmitt, Susana Ibanez, Susanne Wagner, Astrid Meyerfeldt. Trotziges Symbol am
Ende: Rosa mit einem Baby an der Brust, einem blutenden Rotschopf.
Ein weiterer Höhepunkt: Frank
Castorfs „Pension Schöller: die Schlacht", eine kühne Mixtur aus Berliner
Posse (Laufs/Jacoby) und Polit-Parabel (Heiner Müller) zu einer Volksgroteske
von grimmigem Sarkasmus. Da knallt ein Flakgeschütz auf den Zinnen der guten
Stube, Faschismus und Krieg sind leibhaftig gegenwärtig, aber den Leuten geht
es einzig und allein ums Bumsen. Allen voran Onkel Philipp Klapproth (Henry
Hübchen gestisch und mimisch von Extraklasse), ein Inbegriff apolitischen
deutschen Spießertums. Zu den Attacken der Volksbühne gegen heraufziehenden
Faschismus gehörte auch Christoph Schlingensiefs umstrittenes Spektakel
„Kühnen '94. Bring mir den Kopf von Adolf Hitler!"
Zu erwähnen in diesem Zusammenhang
auch Peter Schroths Inszenierung der „Kannibalen" von George Tabori am
carrousel Theater, ein Alptraum über Auschwitz, ein Mahnruf gegen Verfolgung
und Vernichtung von Juden. Tödlicher Haß! Zwischen Volksstimmen, Nationen,
Rassen.
Die Welt kennt
viele Beispiele. Zu viele! Eckhard Becker zeigte im Maxim Gorki Theater Fugards
Drama „Master Harold...und die Boys", ein erschütterndes Genrebild aus
den Zeiten der Apartheid. Matthias Gehrt brachte in der Schaubühne die
Uraufführung des
Dramas „Hotel Orpheu" von Gabriel Gbadamosi, das berührende Schicksal
zweier Angolaner unterschiedlicher Hautfarbe. Sewan Latchinian inszenierte am
Deutschen Theater die Uraufführung der „Gedeckten Tische" von Anna
Langhoff, eine beklemmende Geschichte über Asylanten in Deutschland.
Wahrheit im Theater.
Nicht jeder will sie sehen. Will nicht dafür auch noch Eintritt bezahlen. Und
wer befindet, was wahr ist? Wenn Geschichten gut erzählt werden, vom Autor, vom
Regisseur, spiegeln sie Wirklichkeit. Der soziale Realist Bertolt Brecht
beherrschte diese Kunst. Am Berliner Ensemble holte Heiner Müller dessen
Lehrstück „Fatzer" auf die Bühne, koppelte mit eigenen Texten, mit
„Duell" und „Traktor". Berichte dies jeweils von Proleten, tragisches
Aufbäumen gegen ihnen aufgezwungene Kriege und deren Folgen. Müller nutzte
die Vorlage zu großem theatralem Symbol. Plebejische Sicht auf die
Gesellschaft, ästhetisch profiliert, wird rar im Theater. Hier mit Eva Mattes,
Erwin Geschonneck, Ekkehard Schall, Hans-Peter Reinecke, Jaecki Schwarz und Uwe
Steinbruch ein markantes Beispiel. Ein zweites gab Peter Zadek. Er grub sehr
zeitbewußt Brechts dialektisches Lehrstück „Der Jasager und der Neinsager" aus und setzte es im BE äußerst behutsam in Szene.
Mit Eva Mattes und Hermann Lause zweifellos die stillste, die naivste, die
bescheidenste Inszenierung der Saison. Doch mit heißer poetischer Botschaft!
Beifall auf offener Szene für den Vorschlag, sich nicht der Konvention zu beugen,
sondern einen neuen Brauch einzuführen, nämlich in jeder neuen Lage auch neu
nachzudenken.
Autoren der
Gegenwart raten anders. Tankred Dorst erfand seinen „Herrn Paul", zu
besichtigen im Deutschen Theater in der Regie von Michael Gruner und in der kongenialen
Gestaltung von Kurt Böwe. Dieser Paul, durchaus gebildet, mit philosophischem
Tiefblick für's irdische Dasein, verläßt sein verstaubtes Domizil überhaupt
nicht mehr. Ein Verweigerer, ein Aussteiger aus der Gesellschaft, ein Nichtwähler
vermutlich, gar nicht willens, in neuer Lage neu nachzudenken. Aber das
Schlimmste: Trotz reichlicher Intelligenz ist er offenbar gar nicht mehr fähig
dazu. Was natürlich auch nachdenklich macht.
Ebenfalls am
Deutschen Theater gab es die deutsche Erstaufführung des Schauspiels „Das
Gleichgewicht" von Botho Strauß in der Regie Thomas Langhoffs, womit mit
Dagmar Manzel, Jutta Wachowiak, Jürgen Hentsch, Christian Grashof, Jörg Gudzuhn
und Ignaz Kirchner in den Hauptrollen das derzeit wahrscheinlich wahrhaftigste
und zugleich differenzierteste deutsche Gegenwartsstück vorgestellt wurde.
Nostalgische Romantik als Fassade, dahinter die widersprüchliche Realität. Keine soziale Gerechtigkeit in Sicht, meint der
Autor, aber soziale Veränderungen im Gange. Nämlich: Der Mittelstand wird zerrieben.
Die Folge: Das gesellschaftliche Gleichgewicht ist dahin. Doch die Leut' schicken
sich drein! Und der Reformer, der „von unten" aufräumen will, spekuliert
vorerst an der Börse.
Noch eine Aufführung, die kundig hinter die mediengeschönten
Fassaden des täglichen Lebens schauen half. Am Renaissance-Theater zeigte Barbara
Basel „Geld anderer Leute" von Jerry Sterner. Rechtsanwältin Sullivan (Susanne
Uhlen) kämpft vergebens gegen den smarten Liquidator einer 1200 Arbeiter beschäftigenden,
zwar alten, aber sehr wohl intakten Firma. Was in der ehemaligen DDR per
Treuhand praktiziert wurde, ist in den USA längst ausprobiert: Manipulation
mit Werten, die andere erarbeitet haben.
Ansonsten natürlich auch in dieser Saison die üblichen Spielplan-Perlen,
neu poliert, noch immer funkelnd, nötig für's gängige Repertoire. Ich erinnere
an den glänzenden „Cid" von Pierre Corneille in der Regie von Alexander
Lang am Deutschen Theater. Dagmar Manzel als Chimene, Dietrich Körner als Don
Gomez und Kurt Böwe als Don Diego in meisterhaften Charakterstudien.
Vortrefflich auch der „Reigen" von Arthur Schnitzler in der Regie von
Jürgen Gosch am Deutschen Theater. Von subtilem Empfinden für Natürlichkeit
der Vorgänge war Andrea Breths Inszenierung der „Hedda Gabler" von Henrik
Ibsen an der Schaubühne. Bravourös Corinna Kirchhoff als Hedda.
Zuweilen gelingt es der Regie, mit überkommenen Stücken
nachdenkenswerte Aussagen zur Zeit zu treffen. Wie Peter Zadek am Berliner
Ensemble beispielsweise Shakespeares „Kaufmann von Venedig" hernahm, um
über das moderne Hauen und Stechen in den Chefetagen der Finanzbosse zu
erzählen, macht ihm so schnell keiner nach. Eva Mattes als Portia, Gert Voss
als Shylock und Ignaz Kirchner als Antonio mit hinreißender Spiellaune.
Gegen Ende der Saison offerierte Johanna Schall am Deutschen
Theater mit Ulrike Krumbiegel und Dieter Mann in den Hauptrollen das Schauspiel
„Oleanna" des Amerikaners David Mamaet. Das Stück zeigt exemplarisch
Schwierigkeiten beim Versuch, der Wahrheit habhaft zu werden. Dabei geht es
sinnigerweise um nur einen einzigen Fall zum Problem zwischen Mann und Weib,
vernünftig miteinander umzugehen. Und man kann nicht sagen, daß es die beiden
herrlich weit bringen. Aber das Theater sollte ihnen unverdrossen immer wieder
zur Seite stehen...
Neues
Deutschland, 9. August 1994