Zur Saison 1994/95 der Berliner Schauspielbühnen

 

 

 

 

 

Das Theater muss zeigen, was eine Wolke ist

 

In Zeiten, in denen die spek­takuläre Verhüllung eines historischen Gebäudes als Kunst gehandelt wird, haben es Künstler schwer. Besonders jene vom Theater. Denn ihr Medium ist nicht nur einfach Schau, es vermittelt - so es gut gemacht ist - sogar Ideen. Obendrein haben Theaterleute gemeinhin noch immer den Ehrgeiz, von der Bühne nicht nur zu verkünden, sondern mit ihrer Kunst auch noch etwas zu bewirken, einzugreifen in aktuelle geistige oder soziale Prozesse.

Und immerhin: Solange, was sie Kritisches bieten, nicht ans Eingemachte geht, werden sie mit ihrem Tun von den wal­tenden Medien im allgemeinen bewundert. Sie können es sich unter Umständen sogar leisten, die beste aller Gesellschaften zu verunglimpfen. Aber wehe, wenn sie unverblümt die Wahrheit sagen, wenn sie bei­spielsweise das Kapital offen als Nährboden für Faschismus und Krieg benennen. Da ist der Teufel los. Da werden Dichter und Regisseure diffamiert. So geschehen in der Hauptstadt.

Von eben diesem fatalen Vorgang muß ich an erster Stelle berichten, wenn ich resümierend zurückblicke auf die Saison 1994/95 der Berli­ner Schauspielbühnen. Kaum überraschend: Der Dichter heißt Bertolt Brecht; das Stück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui"; der Regisseur Hei­ner Müller. Die Inszenierung ist seit Juni dieses Jahres im Berliner Ensemble zu sehen.

Obwohl nach Meinung der Au­guren der Feuilletons Brecht mausetot ist, wurde nach der Premiere von der Regenbo­genpresse wie von Blättern, die sich gern seriös geben, ziemlich erbärmlich, meist jedoch scheinheilig konziliant am Dichter herumgekrittelt, weil er in seinem berühmten Stück den Zusammenhang von Ka­pital und Faschismus offenlegt. Natürlich ist diese unheilige Al­lianz inzwischen sattsam be­kannt. Aber sie sei heutzutage doch bitte kein Thema! Sie möchte bitte ganz und gar nicht im Gespräch sein in großer nationaler Zeit, in der von der Obrigkeit fleißig daran gearbeitet wird, deutsche Sol­daten in diesem Jahrhundert noch einmal an die Front zu schicken. Da ist es sehr wün­schenswert, wenn der Bun­desbürger millionenfach auf den verhüllten Reichstag starrt wie auf das Brett vor seinem Kopf. Da paßt es nicht ins Kon­zept, wenn auf einer haupt­städtischen Bühne von deut­scher Okkupationsgier die Re­de ist. Jedenfalls war das eini­gen konformistischen Federfuchsern zuwider. Sie gaben es natürlich nicht zu. Sie nör­gelten herum.

Beispielsweise verspotteten sie Brechts Bemühen von 1941, der kapitalistischen Welt den Aufstieg Hitlers mit einer Parabel zu erklären, als über­flüssige „schriftstellerische Hil­fe". (Sie übersahen geflissent­lich, daß ein Mann wie Arthur Miller es noch 1995 für nötig hält, mit seinem neuesten Stück „Scherben" mitzuteilen, wie unbegreifbar für die Ame­rikaner der Aufstieg der Nazis in Deutschland war!) Und sie verbissen sich an der Ästhetik. Sie verleumdeten das Stück, et­wa als „im Kintopp des Kapi­talismus" spielend oder als „simple Parabelfarce", die „et­was durchaus Einschläfern­des" habe. Den Regisseur schalten sie, weil er noch im­mer an seiner Meinung fest­hält, daß Faschismus „nur eine Konsequenz der Marktwirt­schaft" bedeute.

Nun brauchen weder Bertolt Brecht noch Heiner Müller eine Verteidigung. Auch nicht der soziale Realismus, mit dem sie arbeiten. Doch sie benötigen angesichts einer verlogenen Meinungs-Mafia durchaus Gunst und Förderung all derer, denen das noch vor wenigen Jahren fast heiliggesprochene deutsch-deutsche Bekenntnis, von deutschem Boden solle nie wieder Krieg ausgehen, noch etwas bedeutet.

Zeitfühlig beherzte Theaterkünstler, die ihr Haus mutig als ein demokratisches Forum behaupten, sind ziemlich auf sich allein angewiesen. Ihre Lage ist alles andere als beneidenswert. Mittels Finanz­politik sind sie an eine kurze Leine genommen. Aus der Gesellschaft wächst ihnen Bei­stand kaum zu. Das Publikum, ob wohlhabend, versorgt oder arm dran, ist theatermüde. Überhaupt scheint den Leuten Theaterkunst als Lebensmittel derzeit ziemlich verleidet. Der Gründe sind viele. Ein gravie­render: In der Multi-Kulti-Medien-Gesellschaft eskaliert ein von Politikern geförderter Trend, als Kunst möglichst problemlose bzw. pseudopro­blematische, aber ästhetisierend aufgeputschte Ware zu offerieren. Das Schauspiel muß sich wehren. Des Theaters no­belste Funktion ist noch immer Ergötzen, aber eben nicht als leeres Gaudi, sondern als Lust auf den Menschen, auf dessen Fähigkeiten, dessen Unsäg­lichkeiten.

In dieser Hinsicht hatte man am Berliner Ensemble in der vergangenen Spielzeit eine glückliche Hand. Noch ein gün­stiger Umstand kam hinzu: Im Ringen um den Zuspruch des Publikums waren alle Berliner Theater bemüht, ihr Profil kla­rer zu konturieren, was im besten Falle heißt, die jeweilige Tradition des Hauses für die Gegenwart lebendig zu erhalten, indem man sie weiterzuentwickeln versucht. Das ist freilich schier unmöglich, wenn zu viele Chefs am Werke sind. Obwohl die leitenden Herren Marquardt, Müller, Palitzsch und Zadek letztlich be­stätigten, was alle Welt ora­kelte, daß sie zusammen das BE-Profil nicht formen können, haben sie schließlich, obwohl sie sich trennten, die ästhetische Mentalität des Hauses gut bedient.

Peter Palitzsch brachte in deut­scher Erstaufführung „Ollys Gefängnis" von Edward Bond, ein dramaturgisch zwar Wün­sche offen lassendes Stück, mit dem aber die neuzeitliche Ma­nipulierung des Menschen ak­tuell aufs Korn genommen wird. Ein Regie-Team Peter Zadeks inszenierte „Ich bin das Volk" von Franz Xaver Kroetz, kein Stück im eigentlichen Sin­ne, aber Szenen schonungslo­ser Offenlegung fragwürdiger deutscher Zustände. Und Hei­ner Müller zeigte Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" mit dem überragen­den Martin Wuttke als Ui, eine offensive Inszenierung, die die schon klassische Polit-Parabel nicht auf die verfremdete Historie reduziert, sondern die von den Bedrohungen erzählt, die nach wie vor von der poli­tischen Verführbarkeit des Menschen ausgehen. Das BE - wieder eine gesellschaftskriti­sche Bühne mit hohem ästhe­tischem Anspruch.

Wenn von den Profilen der subventionierten Berliner Theater die Rede ist, schneidet die Volksbühne nach wie vor günstig ab, wenngleich just zum 80. Jubiläum des Hauses vermerkt werden mußte, daß eine weitgehende Umstruktu­rierung des Publikums stattgefunden hat. Frank Castorfs opulentes Trivial-Theater hat die Besucher vergrault, die un­angestrengte Unterhaltung suchten. Doch die Volksbühne hat sich ein erlebnishungriges neues, vorwiegend junges Pu­blikum erobert, das sich - wie geschehen - alle Teile der Hebbelschen „Nibelungen" in Castorfs moderner Aufbereitung auch mal des Nachts reinzieht. Mitternachts-Vorstellungen sind gewiß nicht die Zukunft des Theaters, aber Spektakel gehört nicht erst seit Besson zur Volksbühne, manchmal zwar nur eben so, oft aller­dings politisch gewürzt.

Andreas Kriegenburg hatte zum Auftakt der Saison mit sei­ner Kreation „Aufstand der An­gestellten" öffentlich über ge­sellschaftliche Verhältnisse meditiert, in denen der Mensch von Bürokraten ver- und auch „zerwaltet" wird. Frank Castorf, der Eulenspiegel, nutzte Hebbels „Nibelungen" zu ei­nem antimilitaristischen theatralen Feldzug, und mit Stanislawa Przybyszewskas Dra­ma „Die Sache Danton" zog er eindrucksvoll Bilanz in Sachen Revolution. Seine trocken-sar­kastische Quintessenz: „Auf dem Traktor oder drunter!"

Premieren in der Volksbüh­ne, besonders wenn sie der Chef des Hauses fertigt, sind heutzutage Publikums-Magneten. Manch einer möchte frei­lich nur sehen, wieviel Wasser, Mehl oder was noch sonst dies­mal zum Einsatz kommt. Und die Phantasie des Hausherrn ist bisher unerschöpflich. Selbst stiebende Bettfedern lassen sich gebrauchen. In­dessen: Castorf weiß mit den diversen Materialien peu à peu sparsamer und beredter um­zugehen. Die Ansiedlung von Kresniks Tanztheater an der Volksbühne ist ein Gewinn. Auch er nutzt auf provozie­rende Weise das Spektakel, um politisches Theater aktions­reich über die Rampe zu brin­gen. „Ernst Jünger" war sein polemischer Beitrag zur nicht geleisteten Bewältigung des Faschismus in Deutschland.

Dem Deutschen Theater wurde in der vergangenen Spielzeit vorgeworfen, es diene zunehmend dem Wohlstands­bürger. Diese Bühne ist tatsächlich in einer Zwickmühle. Noch eben repräsentierte sie einen armen, aber kunst­freundlichen Staat, der für sein führendes Theater immer wie­der Finanzen locker machte, es in letzter Stunde sogar bau­lich aufmöbelte. Und nun? Neuerlich Repräsentation? Hofbühne des alten und neuen Finanzadels? Oder Volksthea­ter? (Oder abgewickelt per Im­mobilienhändler und Senat?) Vorerst wird ein Spagat ver­sucht zwischen treuen Besu­chern aus dem Ostteil der Stadt und neuen Anhängern aus dem Westteil.

Die herausragende Produk­tion des Hauses war Tony Kuschners Drama „Engel in Amerika" in der Regie von Die­ter Giesing mit Dieter Mann als Staranwalt Roy M. Cohn, ei­nem wahren Teufel des Jahr­hunderts, den sich die Hölle zurückholt. Das knallhart rea­listische Stück über die USA, über die Menschen dort, über die an Aids Erkrankten und eben über Cohn, der entschei­dend dazu beitrug, die Rosen­bergs auf den elektrischen Stuhl zu bringen, hilft, das Le­ben im Kapitalismus des aus­gehenden Jahrhunderts besser zu verstehen und letzten Illu­sionen ade zu sagen. Im näch­sten Jahrtausend, orakelt eine Obdachlose in der South Bronx, sind wir alle wahnsin­nig. Fast ist man geneigt, ihr Glauben zu schenken. Die sze­nisch dichte Inszenierung lässt einem da kaum eine andere Möglichkeit. Ich denke schon, daß just diese Aufführung wi­derlegt, das Deutsche Theater mutiere zur akademischen Bühne, die soziale Kritik nicht mehr übt, sondern nur noch Bestehendes bestätigt und fei­ert.

Wie unaufdringlich ein überkommenes Werk als Wortmel­dung zu aktuellen Vorgängen in der Gesellschaft aufbereitet werden, kann, führte Thomas Langhoff mit Tschechows Komödie „Onkel Wanja" vor. Da kämpft ein Mann wie ein Ver­rückter um seine Bleibe, für die er sich jahrelang abgerackert hat. Die Stars des Hauses, u.a. Christian Grashof als Wan­ja und Dietrich Körner als Serebrjakow, vermitteln den Konflikt in all seiner grotesken Gnadenlosigkeit. Auch Langhoffs deutsche Erstaufführung der „Alphabeten" von Matthias Zschokke (Co-Regie Rolf Win­kelgrund) ist zeitgenössisches Theater, wie es gebraucht wird. Zschokke erzählt spöt­tisch, was geschehen kann, wenn ein literarisches Talent sich nicht gleichschalten läßt. Der Regisseur hat dem nicht eben sehr dramatischen Werk überzeugende Gestalt gegeben. Das ist selten auf deutscher Bühne, Risiko wird nicht gern gesucht.

Hin und wieder muß ein Re­gisseur Ruf und Ansehen für ein neues Werk ins Treffen führen, vor allem, wenn er über­zeugt ist, mit einer gelungenen künstlerischen Realisierung ei­ne bewegende Auffassung zu aktuellen geistigen und sozia­len Prozessen in die öffentliche Diskussion zu bringen. Irrtü­mer sind freilich nicht ausge­schlossen. Was Tatjana Rese mit ihrer Uraufführung erlebte. Die „Werwölfe" von Stefan Schütz erwiesen sich als degoutante Demagogie gegen­über den Völkern der ehema­ligen Sowjetunion. Solch Miß­griff ausgerechnet am Deut­schen Theater überraschte al­lerdings.

Beim Renaissance-Theater engagierte sich Heinz Kreidl in deutscher Erstaufführung für Arthur Millers „Der letzte Yan­kee", ein Werk von subtilem psychologischem Realismus, das - im Grunde deprimierend - dazu auffordert, sich in die­ser nun mal bösen Welt nach bestem Vermögen einzurich­ten.

Nicht immer, wie schon ge­sagt, müssen es neue Stücke sein, mit denen Aussagen zur Zeit getroffen werden. Am Ma­xim Gorki Theater nahmen Jo­chen Förster und Oliver Reese mit einer Bearbeitung der „Er­mittlung" von Peter Weiss Stel­lung zu skandalöser Haltung deutscher Justiz im Jahre 1994. Im Deutschen Theater bewies Thomas Langhoff mit Hebbels „Kriemhilds Rache", welch schlechter Ratgeber Ver­geltung ist. Im theater 89 führ­te Hans-Joachim Frank mit Alfred Matusches „Regenwettermann" den Freitod eines Kriegsverweigerers vor. Das carrousel, auf dem besten Wege zum Fa­milientheater, zeigte Borcherts Antikriegsstück „Draußen vor der Tür" (Regie Manuel Schöbel). Und an der Schaubühne brachte Andrea Breth mit Euripides' Tragödie „Orestes" in Erinnerung, daß Geiselnahme eine uralte menschliche Erfin­dung ist.

Im Vergleich mit dem, was zum diesjährigen Theatertref­fen aus dem deutschsprachigen Raum nach Berlin geholt wurde, schneiden die haupt­städtischen Bühnen vorzüglich ab. Man mag beklagen, daß ein Kampf der Richtungen nicht stattfindet. Langhoff pflegt ge­treu seinen - gelegentlich als konservativ kritisierten - ele­mentar schauspielerischen Stil. Castorf geht seinen Weg als enfant terrible des Thea­ters, zerklopft und montiert Stücke neu für seine theatralen Provokationen, die Schauspie­ler verbrauchend. Müller holt Haltungen der Oper ins Schau­spiel, was bereichert, aber auch verarmt. Dazwischen die dezidierten Handschriften Breths, Zadeks, Palitzschs, Kresniks, Marthalers, Kriegenburgs, Marquardts, Meltkes. Austausch findet kaum statt. Dennoch Polarisierun­gen. Heribert Sasses mißlungener Versuch, mit Shakespeares „Richard III." - und Klassik ist rar auf den Spielplänen! - das Schloßpark-Theater zu reakti­vieren, zeigte, daß in Berlin ein bestimmter ästhetischer Stan­dard nicht unterschritten wer­den kann.

Aber neue theatrale Provin­zen? Impulse könnten von ei­nem prägenden Dramatiker kommen. Er ist nicht in Sicht. Von Arthur Miller über Botho Strauß bis hin zu Elfriede Jelinek - Verlust an Utopie, zer­störte Hoffnungen auf gesell­schaftlichen Fortschritt - kata­strophal. Der große Groll über das soziale Versagen des Men­schen ist nur zu verständlich. Was dazu derzeit an verbitter­ter Kritik über die Bretter geht - etwa Jelineks „Raststätte oder Sie machens alle" (Gast­spiel des Schauspielhauses Hamburg) -, ist schwerlich zu überbieten. Und tiefer, als Schwab in „Präsidentinnen" (Gastspiel des Burgtheaters Wien) in die Toilette fassen läßt, wird man es nach ihm kaum tun können.

Angesichts des grassieren­den Sozialpessimismus, der sich auch in Berlin als Bühnendefätismus niederschlägt, sind Inszenierungen geradezu ein Labsal, die den Alltag ver­gessen machen. Selten so ge­lacht! Ich erinnere an Feydeaus „Dame vom Maxime" im Renaissance-Theater (Regie Barbara Basel); an Bulgakows „Iwan Wassiljewitsch" im Ma­xim Gorki Theater (Regie Mar­tin Meltke), an Guares „Bin­dung 6. Grades" in der Komö­die am Kurfürstendamm (Re­gie Martin Woelffer). Eine wah­re Perle des Vergnügens, fun­kelnd und strahlend, war Luc Bondys Inszenierung der Ko­mödie „Der Illusionist" von Sacha Guitry mit Gert Voss in der Schaubühne. Zu nennen in die­sem Zusammenhang auch das Theater im Palais mit Orwells „Farm der Tiere" (Regie Bar­bara Abend). Komödiantische Virtuosen versöhnen für ein paar Stunden mit der Welt. Reicht das nicht eigentlich? Ist das nicht schon viel? Wozu all die Aufregungen?

Theater, das gehört seit Aischylos und Aristophanes zu seinem Wesen, muß offensiv sein, muß stören, mitreden, eingreifen. Salopp gesagt: In Zeiten, in denen den Leuten wieder mal weisgemacht wer­den soll, daß der Regen neu­erdings von unten nach oben fällt, muß das Theater zeigen, was eine Wolke ist.

 

 

 

Neues Deutschland, 7. August 1995