Schauspielbühnen in Berlin  -  ein Rückblick auf die Theatersaison 1995/96

 

 

 

Ratlosigkeit als ästhetische Kategorie?

 

An amüsanten Apercus über zeitgenössisches Theater fehlt es nicht. Weder Regisseure, Kritiker noch Autoren geizen. Hier eine kleine Auswahl: Christoph Schlingensief, Publikums-Schocker, plaudert aus, so er in Berlin gastinszeniere, habe er das Gefühl, »das Kinderzimmer ein bißchen durcheinander zu bringen«, dann fahre er wieder ab. Sigrid Löffler, Star-Rezensentin, träumt öffentlich von einem »nomadisierenden Theater für sitzmüde Spazier-Schauer«, einem »Fernseh-Imitat« als »Versuch virtuellen Theaters«. Sie hält »Parallelaktionen in vielen Räumen« für einen »Weg« in eine »schöne neue Theaterwelt«. Frank Castorf, Chef der Volksbühne, hat »manchmal« eine »gewisse Sehnsucht nach dem Totalitären«, auch möchte er »in Berlin für die nächsten zehn Jahre vor allem Faust und Peter Stein verbieten«. Marlene Streeruwitz, feministische Dramatikerin, bezeichnet Goethe als »Kriegstreiber« und Shakespeare als »Langeweiler« und empfindet die Klassiker als »die Langeweile des Phallus zwischen den Orgasmen«.

Rückzug aus der Wirklichkeit

Solche und ähnliche markige Sprüche aus nah und fern zieren die Theaterszene und erwecken in der Summe den Eindruck, als hätten wir es in Deutschland mit einer fabelhaft pluralistischen Bühnenkunst zu tun. Realiter aber eskaliert von Jahr zu Jahr auffallender eine im Grunde kläglich elitäre Beschäftigung des Theaters mit sich selbst. Statt Reibung mit der Gesellschaft scheint formal ästhetisierende, in sich .ruhende, eitel egozentrische Spielerei angesagt »für Streuner und Schweifer, die sich nur im Vorübergehen anspielen lassen« (Löffler) - ein Theater kunstvoller Unverbindlichkeit also und des opulenten Schwelgens im Nebensächlichen.

Wie weit hierin haben es die Berliner Bühnen in der vergangenen Spielzeit gebracht? Noch halten sie sich, wie mir scheint, erfreulich zurück. Aber Zeichen wurden gesetzt. Robert Wilson, amerikanischer »Avantgardist« in Deutschland, zeigte mit einem Gastspiel im Hebbel-Theater, wie sich Theaterkunst aus der Wirklichkeit zurückzieht. Seine Selbstdarstellung als in die Jahre gekommener Hamlet, exquisite L'art pour l'art, fand allerdings wenig Resonanz. Einar Schleef, germanischer »Avantgardist« in Berlin, operierte offensiver, wie auf dem Thingplatz, mit verschlissenen Militärmänteln und nackten Leibern. Am Berliner Ensemble trieb er Brechts »Puntila« und dessen Knecht Matti den sozial konkreten Inhalt so ziemlich aus und servierte den Rest als eine erotische Schnurre, eitel selbstgefällig mitagierend als meist brüllender Maitre de plaisir inmitten abstrakt-dekorativer Tableaus. Josef Szeiler, »Avantgardist« aus Österreich, offerierte am Berliner Ensemble Heiner Müllers Tragödie »Philoktet« als monotone Rede-Party antiker Skulpturen, glatzköpfig und im Adamskostüm auftretende Krieger, schamhaft bedeckt nur ihre Füße mit Schnürschuhen. Ein gewisser Show-Wert war also im Angebot.

Woher, frage ich, kommt solch Trend, eine zunehmend lebensleere, im Bildhaften aber möglichst schöne Theaterkunst zu machen? Eine schon mystisch anmutende ideologische Kampagne hat dazu geführt, den Realismus auf dem Theater zu verteufeln und Spielweisen, die gesellschaftliche Zusammenhänge aufdecken, als konventionell zu denunzieren. Schlägt man bei Brecht nach, was ich mir gestatte, findet man folgenden Hinweis: »In den großen Zeiten des Theaters ist kein Gegensatz zwischen Form und Inhalt vorhanden. Er entsteht gemeinhin in den Niedergangsepochen.«

Leben wir in einer Niedergangsepoche? Des Theaters? Des Staates? Gewiß, der alltägliche Wahnsinn der Kapital-Gesellschaft scheint eher für die Skandal-Gazetten geeignet. Er ist in seinen Einzelheiten auch nicht unbedingt ästhetisch reizvoll. Ob beispielsweise ein bankrotter Milliardär mit ergaunerten Millionen ins Ausland düst oder ein anderer sich im »Bristol« erhängt - wen interessiert das noch auf dem Theater. Zumal TV und Presse die Fälle hinlänglich auszuschlachten pflegen. Und wenn Hunderte Millionen Mark verschwinden, die eigentlich eine Ost-Werft erhalten sollte - ist das für die Kunst von Belang? Oder wenn regierende Herrschaften wegen des Profits entscheiden, künftig einige zehntausend Bürger mit Fluglärm zu terrorisieren - regt das noch jemanden auf? Und die Folgen des »Sparpaketes« aus Bonn - nur Stoff fürs Kabarett?

Der ästhetischen »Bilanzierung«, der Gipfelung des alltäglichen Wahnsinns sozusagen, scheint in Berlin zur Zeit nur ein Theater gewachsen: die Volksbühne. Viel Getöse, ohne Zweifel; auch Leerlauf; neue musische Provinzen nicht in Sicht; aber unverdrossene Bemühungen. Frank Castorf setzte mit »Golden fließt der Stahl« von Karl Grünberg, gekoppelt mit Texten aus Heiner Müllers »Wolokolamsker Chaussee«, seine Praxis fort, Stücke gegeneinander zur Collage zu montieren und damit aktuelle Bezüge herzustellen. Daran zu erinnern - zwar spöttisch, aber immerhin -, was die armen kleinen Leute in der armen kleinen DDR unter sowjetischer Besatzung geleistet haben, hat vielleicht mit »Ostalgie« zu tun, auf alle Fälle mit Information für neue Okkupanten und mit Selbstbesinnung für neuerdings Gelackmeierte. Die Umbrüche, Ausbrüche, Aufbrüche, Zusammenbrüche, die heute Berlin erschüttern, bei Castorf wird der Zuschauer eingestimmt. Auch Christoph Schlingensief setzte mit »Rocky Dutschke, '68« in der Volksbühne allerhand Emotionen frei, verhalf vor allem Jugendlichen zu heiterer Abreaktion von Alltags-Frust. Der Umgang mit Wirklichkeits-Material indessen - vom Leben Dutschkes bis zu Filmen aus dem Operationssaal - war chaotisch und erinnerte durchaus ans unaufgeräumte Kinderzimmer. Gestalterischer, gar wegweisender Sinn ist Mangelware.

 

Künstler scheinen geistig heimatlos

Womit wir beim springenden Punkt wären. Viele, zu viele Künstler sind geistig heimatlos. Selbst wohin die Reise dieser Gesellschaft geht, bewegt sie im Grunde wenig. Nichts ist ohnehin ungewisser als eben das. Mit gezielten Fragen hält man sich daher lieber zurück, mit unsicheren Antworten schon allemal. Die Bühnen mögen in der Tat nicht die allzu konkrete, die allzu aktuelle unmittelbare Verstrickung in die Wirklichkeit. Schon ein Streit mit diesen oder jenen Erben ist ja unliebsam genug. In diesen »Zeiten sozialer Einschnitte« (0-Ton ZDF) und um sich greifender Hoffnungslosigkeit legt man sich nicht so gern fest. Ratlosigkeit scheint zur ästhetischen Kategorie zu avancieren.

Auch in der Dramatik. Das Deutsche Theater immerhin probierte aus. Es erzielte mit einem »Heimatstück«, mit »Wartesaal Deutschland StimmenReich« von Klaus Pohl in der Regie des Autors einen gewissen Erfolg, was nach dem Lesen des Pohlschen »Spiegel“-Berichtes nicht unbedingt zu erwarten gewesen war. Über deutsche Befindlichkeiten, Dünkel und Frust schön verteilt zwischen West und Ost, ist, ebenfalls am Deutschen Theater, auch im Monolog-Stück »Helden wie wir« von Thomas Brussig (Regie Peter Dehler) einiges zu erfahren, dank vor allem der ausgewogenen Darstellung von Götz Schubert. Bei Lothar Trolles »die baugrube«, am Berliner Ensemble uraufgeführt, einem modernen Märchen zwischen Parodie, Karikatur und Klamotte über ein heroisch-groteskes Projekt, nämlich den Turmbau Sozialismus, vermochte Regisseur Armin Petras trotz redlichen Mühens aus der Allegorien-Fülle keine Quintessenz zu filtern. Es war, alles in allem, mit zeitgenössischer, gar aktuell sozialkritischer deutscher Dramatik auf Berliner Bühnen so gut nicht bestellt.

Insofern ist die Lücke groß, die Heiner Müllers Tod gerissen hat. Nicht zufällig wird der Dichter von bestimmter Seite bereits als von der Zeit überholt abgeschrieben. Ein unbequemer Mahner soll möglichst ganz und gar von den Spielplänen verschwinden. Heiner Müller war der deutsche Dramatiker, der den »letzten Stand der Dinge« unerschrocken beim Namen nannte; nicht immer schlüssig, gewiß, nicht leicht nachvollziehbar, aber den sozialen Umbrüchen und Tragödien dieses Jahrhunderts nicht ausweichend.

Um so bedauerlicher daher, daß Martin Wuttke, der inszenierende Hausherr, Müllers nachgelassenes Werk »Germania 3 - Gespenster am Toten Mann« im Berliner Ensemble auch auf eben jene ästhetisierende, Konflikte glättende Schiene hob, auf der derzeit von Regisseuren gern gefahren wird, und auf welcher Strecke in die Texte eingebundene Realität verloren geht beziehungsweise gar nicht erst erschlossen wird. Das fatale historische Versinken Deutschlands in perfide Kriminalität, das Müller aufdeckt - von der Ermordung Rosa Luxemburgs über den Völkermörder Hitler bis zum Rosa Riesen -, wird bei Wuttke nicht erzählt. Er ist dem Text zwar treu, mogelt nichts hinzu, aber er läßt zitieren, statt spielen, wodurch Zusammenhänge verloren gehen. Und er treibt Aufwand im Nebensächlichen. Zum Beispiel posiert eine unverhältnismäßig große Schar weiblicher Angestellter der Reichskanzlei in schwarzweißen Schattenbildern. Und er wertet fragwürdig. Hitlers Schergen in der Sowjetunion als seriöse alte Herren in Proszeniums-Logen zu setzen, unterschlägt die vom Autor für diese Figuren vorgsehenen konkreten Vorgänge. Statt heftiger Auseinandersetzung gemütlicher Plausch. Ließ sich die Stalingrader Schlacht in der Dekoration Nina Ritters nicht unterbringen?

Bühnenbildner haben übrigens durchaus einen gewissen Anteil am klammheimlichen Auszug des Theaters aus der Wirklichkeit. Flüchten sie wegen fehlender Finanzen in die billige Abstraktion? Neuerdings kommen sogar diese ewig schmuddeligen Seiten-Abhänger links und rechts der Bühne wieder ins Bild, Striese läßt grüßen. Die Grenzen zwischen Provinz- und Weltstadt sind - wie stets - fließend. Die fast leere, aber durch farbkräftigen Grund von Johannes Schütz zu einem poetischen Spielraum erhobene Bühne bei Jürgen Goschs »Homburg« am Deutschen Theater beispielsweise ist mir in guter Erinnerung. Und Volker Pfüllers nur angedeuteter Königspalast zu Alexander Längs »Oidipus«-Inszenierung am Deutschen Theater steht zur Fabel. Gisbert Jäkel an der Schaubühne verzichtete ausgerechnet für Tschechows »Möwe« auf das soziale Milieu, baute einen zeitlos-abstrakten Spielort, gegen den Regisseurin Andrea Breth ihre Schauspieler anspielen ließ. Die »Entrümpelung der Szene« - Gewinn, weil sie Konzentration auf die Figuren erleichtert, aber auch Verlust, weil Substanz des Stückes verlorengeht.

Gewinn oder Verlust? Die Antwort gibt letztlich nicht die Kritik, sondern das Publikum. In Berlin ist es offenbar in ständiger, schwer vorhersehbarer Umschichtung begriffen. Dabei sind die Zufriedenen, die in diese Gesellschaft »Integrierten«, wahrscheinlich nicht in der Mehrzahl. Andererseits macht Unzufriedenheit mit sozialen Zuständen nicht automatisch neugierig auf Theater, gar auf zeitgenössische Problematiken. Wer beobachtet, wie das Schlosspark-Theater und das Renaissance Theater schon fast verzweifelt um jeden Zuschauer kämpfen, weiß, daß sich diese Bühnen Originalität und Flexibilität im Spielplan eigentlich kaum leisten können. Sie müssen versuchen, »auf Nummer Sicher« zu gehen. Jeder ihrer Versuche, zeitfühlig brisantes Theater zu machen, verdient besondere Anerkennung. Am Schlosspark-Theater war in einer hinreißenden Inszenierung Michael Schottenbergs »Weiningers Nacht« von Joshua Sobol zu sehen, ein bizarres Spiel zwischen Realität, Erinnerung und Fiktion über das menschlich Abgründige doktrinärer Ideologie mit Marcello de Nardo als jüdischer Selbstmörder Weininger. Am Renaissance Theater faszinierte das Familiendrama »Gespräche mit meinem Vater« von Herb Gardner in einer Inszenierung Peter Kühns mit Wilfried Baasner als jüdischer Kneipenwirt, ein aufschlußreiches Stück über den Zwang zur Anpassung an herrschende gesellschaftliche Verhältnisse.

Wenn ich zurückblicke, fällt mir auf, daß es in der vergangenen Spielzeit in Berlin eine wirklich herausragende, thematisch bewegende und künstlerisch perfekte Aufführung nicht gab. Müllers Inszenierung des »Ui« mit Martin Wuttke nimmt noch immer die Spitze ein. Ansonsten gutes hauptstädtisches Niveau, wie es selbstverständlich sein sollte. Ich denke an »Einsame Menschen« von Hauptmann (Regie Leander Haußmann, Volksbühne), »Warten auf Godot« von Samuel Beckett (Regie Jürgen Gosch, Deutsches Theater), »Baumeister Solness« von Henrik Ibsen (Regie Arie Zinger, Maxim Gorki Theater), »Auftrag« von Heiner Müller (Regie Frank Castorf, Berliner Ensemble), »Slawen!« von Tony Kushner (Regie Uwe Eric Laufenberg, Maxim Gorki Theater), »Unwiederbringlich« nach Fontane (Fassung und Regie Barbara Abend, theater im palais), »As-wa - die von gegenüber« von Anja Tukkermann (Regie Dietrich Lehmann, GRIPS), »Urfaust« von Goethe (Regie Peter Schroth, carrousel).

Schauspielkunst ist die beste Werbung

Was die »Langeweiler« betrifft, die Klassiker, so ist vom Maxim Gorki Theater zu berichten, wo Schillers »Kabale und Liebe« in einer forschen Inszenierung Günther Gerstners ganz unlangweilig über die Bühne ging, allerdings zu fragen blieb, ob wir uns gut bedienen, wenn wir den Präsidenten von Walter als Mafia-Boß und abgefeimten Killer personifizieren, Schiller also zum Haupt- und Staatsaktionär reduzieren. Am Deutschen Theater lockte Thomas Langhoff mit Shakespeares »Geschichte von Heinrich IV.«, vorgeführt in markanten Bildern als frühes Beispiel menschlicher Hatz nach Reichtum und Macht, auf den Spielplan genommen vielleicht auch, weil Kurt Böwe endlich den Sir John Falstaff spielen sollte, was freilich wirklich ein triftiger Grund gewesen wäre.

Viel zu selten werden prominente Schauspieler als »Zugpferde« auf die Bühne geschickt. Felix Prader besetzte an der Schaubühne Udo Samel, Peter Simonischek und Gerd Wameling und führte damit die Komödie »Kunst« der Französin Yasmina Reza zum Erfolg. Katharina Thalbach hatte im Maxim Gorki Theater - großes Risiko nicht scheuend - mit Harald Juhnke als »Hauptmann von Köpenick« letztlich wohl doch Glück. Heribert Sasse besetzte im Schlosspark-Theater Horst Buchholz in Sartres »Die respektvolle Dirne« als Senator, womit sich nicht alle Erwartungen erfüllten. Filmstars sind auf dem Theater nicht unbedingt zugkräftig. Wenngleich, überragende realistische Schauspielkunst ist noch immer die beste Werbung für Theater.

Es brauchte keine nackten Leiber

So lasse ich mir denn nicht nehmen, von Jörg Gudzuhn als König Oidipus zu schwärmen, auch von Alexander Lang, der die Tragödie des Sophokles am Deutschen Theater in maßstabsetzender Weise inszenierte. Selten heutzutage wird mit überkommener Dramatik auf der Bühne so klar, so überaus differenziert erzählt, wie gnadenlos eng persönliches Schicksal verflochten ist mit Wohl und Wehe des Staates. Es brauchte keine Stück-Demontage, keine ästhetisierende Abstraktion, auch keine nackten Leiber, nur die Menschenkunde und das solide Handwerk eines nicht so ganz und gar ratlos in Zeit und Gesellschaft lebenden Regisseurs, um wahrhaft ergötzendes Theater zu machen.

Vielleicht sind die Weichen gerade in Berlin noch nicht endgültig gestellt. Wahrscheinlich behauptet sich - auch in der Gunst des Publikums - letztlich am besten das Theater, das den Menschen nicht zur Figurine denaturiert und ihm wenigstens auf der Bühne eine Chance gibt.

 

 

Neues Deutschland, 30. Juli 1996